«Was uns nicht umbringt, macht uns stärker»: Dieses Zitat des Philosophen Friedrich Nietzsche ist so etwas wie die Durchhalte-Parole in Krisensituationen. Tatsächlich ist die Vorstellung verlockend, nach einer Leidenszeit stärker zu sein.
Die Schweizer Entwicklungspsychologin Pasqualina Perrig-Chiello hat zu den verschiedenen Entwicklungsphasen des Lebens geforscht, ganz besonders zum mittleren und höheren Alter. In ihrem neusten Buch «Own your Age» geht sie der Frage nach, warum kleine und grosse Krisen im Leben die Widerstandsfähigkeit trainieren.
Sie glaubt, dass diese Art von Resilienz hilfreich ist, besonders im Hinblick auf das Älterwerden, wo Veränderungen oft mit Verlusten einhergehen. «Die Forschung zeigt sehr schön, dass Menschen, die ein mittleres Mass an Krisen durchlebt haben, gelassener, resilienter und weiser sind als solche, die gar keine Krisen durchlebt haben oder eben zu viele.»
Neue Routinen, neue Krisen
Die Entwicklungspsychologin, Autorin von Besteller-Büchern wie «In der Lebensmitte» oder «Wenn die Liebe nicht mehr jung ist», widmet sich in ihrem neuesten Buch den Lebensübergängen, in der Psychologie auch Transition genannt.
Innerhalb solcher Phasen finden in kurzer Zeit wichtige Veränderungen statt, die uns viel abverlangen. Das soziale Umfeld und die alltäglichen Routinen verändern sich, unsere Identität muss sich neu orientieren und anpassen.
Die Krise als Chance
Für Perrig-Chiello sind die Phasen deshalb interessant, weil sie die Identitätsentwicklung vorantreiben. «Gewohnheiten verändern sich und man muss sich neu erfinden.» Psychologisch heisst das, dass eine gewisse Unruhe ins Leben tritt: «Was kommt auf mich zu, welche Anforderungen sind damit verbunden? Je nach Persönlichkeit wird das als Bedrohung empfunden, oder im besten Fall als Chance, sich neu zu definieren», meint Perrig-Chiello.
Gelingt die Anpassung, fördert das die psychische Widerstandsfähigkeit. Schaffen wir es nicht, entsteht Stress. Es gibt normative Lebensübergänge wie die Pubertät oder die Wechseljahre, den Schuleintritt, die Volljährigkeit oder die Pensionierung. Oder es gibt individuelle Übergänge wie Wohnort- und Jobwechsel oder eine Trennung.
Im Gegensatz zu den normativen Übergängen sind die individuellen Veränderungen nicht planbar. Sie passieren plötzlich und katapultieren uns aus dem gewohnten Lebenslauf heraus in eine neue, nicht vorhersehbare Richtung.
Krisenerprobt besser altern?
An Krisen kann man wachsen, sagt Pasqualina Perrig-Chiello. Allerdings werde das für die Betroffenen oft erst im Nachhinein sichtbar. Nicht alle Krisen fordern uns auf gleiche Weise heraus. Wenn man einen guten Umgang mit Krisen erlernt, fällt einem auch das Älterwerden nicht schwer.
Pasqualina Perrig-Chiello beschreibt in ihrem Buch die drei grossen Veränderungen ab der Lebensmitte: den Übergang in die zweite Lebenshälfte, mit der Pensionierung den Übergang ins Alter und schliesslich den Übertritt ins hohe Alter.
Gut, gesund und stabil gealterte Menschen zeichne aus, dass sie ein ausgewogenes Verhältnis haben zwischen der Akzeptanz des Schicksals und dem Wissen: Ich kann etwas gestalten, ich kann etwas tun mit diesem Schicksal.
Rückschläge und Übergänge meistern
Niederlagen, Jobverlust, Krankheit: Forscherinnen und Forscher fragten sich lange Zeit, warum manche Menschen besser mit solchen Situationen umgehen können als andere. Die Positive Psychologie hat hierfür ein Wort: Resilienz.
Gemeint ist damit die psychische Widerstandsfähigkeit, Krisen zu meistern, ohne dauerhaft Schaden davon zu tragen. Laut Perrig-Chiello hätten frühere Psychologen gerne und oft von der Leidensfähigkeit gesprochen. Es gehe nicht nur darum, Leid auszuhalten, sondern auch, das eigene psychische Immunsystem zu aktivieren.
«Es ist eindrücklich nachgewiesen, dass Resilienz nur dann entstehen kann, wenn wir an unsere Grenzen stossen. Wir werden uns unserer Stärken erst dann richtig bewusst, wenn einfach plötzlich nichts mehr geht. Wenn wir alles mobilisieren müssen, was in uns drinsteckt», sagt Perrig-Chiello. Es geht also um Stehaufmännchen-Qualitäten.
Tatsächlich verfügen resiliente Menschen über Eigenschaften und Strategien, die ihnen helfen, mit Krisen umzugehen. Ein massgeblicher Faktor sei das soziale Umfeld: Freunde und Familie.
Des Weiteren brauche es Charakterstärken und Bewältigungskompetenzen. Dazu zählen Zuversicht, Empathie, Offenheit oder Neugier. Das könne man zu einem gewissen Teil lernen, etwa durch das Tagebuch-Schreiben, so Perrig-Chiello. Man bringt zu Papier, welche Herausforderungen man gemeistert hat und welche Strategien geholfen haben.
Resilienz bedeutet Arbeit
Die Psychologin empfiehlt darüber hinaus, Neues auszuprobieren. Ein Hobby, eine ehrenamtliche Tätigkeit oder das Erlernen eines Musikinstruments. Sich auf sich selbst zu fokussieren, sei zumeist Selbstmitleid und dies sei alles andere als dienlich.
Es gehe nicht darum, Gefühle wie Trauer und Wut nicht zuzulassen. Es gehe vielmehr darum, sich nicht von ihnen kontrollieren zu lassen. «Krisen sind nichts Schönes. Im Gegenteil: Man packt die Kraft, die Wucht, die eine Veränderung mit sich bringt und aktiviert seine Selbstwirksamkeit.» Resilienz ist also auch immer ein Stück Arbeit.
Sich selbst zur Verantwortung ziehen
Gemeint ist hier keine Arbeit im Sinne von noch mehr Selbstoptimierung oder mehr Leistungsfähigkeit, aber im Sinne von mehr Selbstreflexion hin zu einer Entwicklung, die nicht nur für mich, sondern auch für unsere Mitmenschen hilfreich sei.
Menschen, die in Krisen geraten und nur sich selbst sehen, seien eine Belastung für ihre Angehörigen. «Wir haben nicht nur eine Selbstverantwortung für uns, sondern auch eine Mitverantwortung für die Befindlichkeiten derer, die mit uns leben.»
Was aber, wenn die Veränderungen im Alter immer öfter mit Verlust einhergehen? Wenn der Körper gebrechlich und der Bewegungsradius immer kleiner wird? Pasqualina Perrig-Chiello schreibt in ihrem Buch: «Die zweite Lebenshälfte ist voller Überraschungen: schöne und weniger schöne. Die vielen schönen nehmen wir gerne entgegen. Die weniger schönen sind allemal Chancen zum persönlichen Wachstum.»
Dass sich etwas verändert, lässt sich ohnehin nicht verhindern. Aber wir können mitbestimmen, wie wir uns verändern. In diesem Sinne plädiert sie für ein «Own your Age» anstatt «Act your Age». Es gibt schliesslich nicht den einen, vorgegeben Weg, älter zu werden.
Scheitern als Resilienz-Verstärker
«Wir müssen unsere eigenen Standards definieren, damit wir im Einklang mit dem sind, was wir innerlich sind und was die Leute von uns erwarten.» Das Festhalten an einem früheren Selbst, am Bild der früher attraktiven und umworbenen jungen Frau oder am Bild des starken, potenten Mannes, führe nur dazu, dass man sich selbst stresst.
Scheitern ist manchmal unvermeidlich, aber gleichwohl auch Anreiz für persönliches Wachstum. Und das ein Leben lang.