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Emil ist sieben Jahre alt. Er lebt in Hamburg und organisiert in diesem Sommer eine Demo unter dem Motto: «Spielt mit mir! Nicht mit euren Handys!»
Er will, dass seine Eltern mal «das Handy wek legen», wie er auf einem selbstgemalten Transparent schreibt. Die Einladung zu seiner Demonstration steht seit August auf Facebook.
Für den 8. September 2018, an dem die Demo stattfand, hat Emil sogar einen Schlachtruf gereimt: «Wir sind hier, wir sind laut, weil ihr nur aufs Handy schaut.»
Die Resonanz ist gewaltig. Deutsche und internationale Zeitungen, Magazine, Fernsehteams berichten. Emil hat einen Nerv getroffen.
Das Smartphone ist nicht das Böse
Die Diskussion über den Online-Konsum schwankt augenblicklich zwischen Dämonisierung und Glorifizierung. Für viele ist klar: Das Smartphone ist das Böse schlechthin.
Lutz Jäncke, Professor für Neuropsychologie, sagt dazu: «Das ist Quatsch. Das Handy ist nicht das objektivierte Böse. Das Smartphone zu verteufeln, das wäre so, als sagte ich: ‹Essen macht dick, und ich höre mit dem Essen auf.› Wir müssen lernen zu essen, und wir müssen richtig essen.»
Doch auch Jäncke ist überzeugt: Für Heranwachsende ist vieles am Online-Konsum schädlich, weil die Schaltzentrale im Gehirn, der Frontalkortex, noch nicht ausgebildet ist.
Wenn man den Frontalkortex eines Kindes mit dem Immerselben aus dem Display füttere, dann lerne der irgendwann auch nichts anderes mehr.
Für den Normalfall fehlen Daten
Das Online-Verhalten von Jugendlichen ist in der Schweiz sehr genau untersucht. Die JAMES-Studien sind hier wegweisend. Seit 2010 bilden sie den Medienumgang von Jugendlichen ab.
Bei Erwachsenen werden im Gegensatz zu den Jugendlichen vor allem die extremen Auswüchse der Internet-Nutzung untersucht, wie die digitale Spiel- oder Pornografiesucht.
«Diese bildungsbürgerlich verdächtigen Sachen werden untersucht, weil das die Leute aufschreckt. Was aber ausserhalb der Onlinesucht passiert, damit befasst man sich kaum», sagt Jäncke.
Aber genau darum müsste es gehen: den sogenannten Normalfall des Online-Konsums bei Erwachsenen.
Nur lasse sich der Normalfall schwer untersuchen, sagt Mark Eisenegger vom «Forschungsinstitut Öffentlichkeit und Gesellschaft» der Universität Zürich, kurz fög.
«Dazu bräuchte man alle Basisdaten. Aber an die kommt man nicht ran. Die horten Google und Facebook. Hätte man diese Daten, könnte man vorzüglich forschen, hätte dann aber auch den gläsernen Menschen.»
Eine Studie in Deutschland untersucht das allgemeine Nutzungsverhalten von Medien. Man weiss, welche Online-Angebote genutzt werden, aber nicht, wer sie individuell wie nutzt und was das konkret bedeutet.
Diagnosekriterien sind schwer zu definieren, Nutzungsdauer alleine sagt zu wenig aus.
Eine kulturelle Revolution
Die Online-Nutzung ist kein Jugendphänomen, sondern eines, das alle Bevölkerungsgruppen und Schichten erfasst hat. «Es ist die grösste kulturelle Revolution, die alles bisher Dagewesene übersteigt», sagt Neuropsychologe Lutz Jäncke.
Diese Revolution hat auch den Berufsalltag durchdrungen: mailen, chatten, simsen, surfen, skypen. Was macht das mit unserem Gehirn?
«An einem normalen Arbeitstag kriegen Sie permanent Informationen um die Ohren geballert», sagt Jäncke. «Das ist das Groteske: Wir schreiben viele Mails und fühlen uns von denen, die wir kriegen, belastet.»
Das sei eine klassische Stresssituation und extrem ungesund: «Wir streben Einfachheit, Klarheit, Übersichtlichkeit, Logik an. Das Gehirn hasst Chaos.»
Von Reizen gesteuert
Das Gehirn geht mit dieser Überforderung in einer Weise um, die Jäncke gar nicht gefällt: «Wenn das Gehirn nicht in der Lage ist, mit der Menge an vorhandener Information umzugehen, dann schaltet das Gehirn – plakativ gesprochen – in einen anderen Betriebsmodus. Ich nenne das ‹lazy brain›.»
In diesem Modus würden die Informationen aufgrund von Vordefinitionen vom Gehirn ausgewählt. Das seien zumeist lustbetonte Angelegenheiten, so Jäncke. Wir beschäftigen uns nur mit den Reizen, die sich uns aufdrängen.
«Das ist eine unangenehme Situation, weil wir nicht mehr die Agenten unseres Denkens, Handelns und Entscheidens sind, sondern von den Reizen gesteuert werden.»
Das bedeutet, dass wir nicht mehr bei kühlem Verstand entscheiden. Wichtig ist, was sich als Reiz durchsetzt: «Je mehr Information wir haben, desto mehr kommt nur noch die Information durch, die uns emotional trifft.»
Das muss aber bei Lichte und mit Abstand besehen nicht das Wichtigste sein. So sind viele Entscheidungen im Nachhinein schwer nachvollziehbar. Auch für die, die sie getroffen haben.
Die Menschen könnten mit Masse und Häufigkeit von Information nicht mehr umgehen, sagt Jäncke: «Sie ersticken daran, und sie wünschen sich nichts sehnlicher, als vor diesem Zeug einmal Ruhe zu haben.»
Digitale Entgiftung boomt
Die Sehnsucht, «vor diesem Zeug einmal Ruhe zu haben» bündelt sich aktuell im Begriff «Digital Detox». Gibt man ihn bei Google ein, erhält man 55 Millionen Einträge. Eine breite Angebotspalette steht einem offenbar breiten Bedürfnis gegenüber.
Was ist Digital Detox? Eine Antwort bekommt man bei der Schweizer Krankenkasse Helsana: «Seit 2013 ist Digital Detox ein fester Begriff im Oxford Dictionary of English. Ständig online zu sein, ist längst nicht mehr das Höchste der Gefühle. Die digitale Entgiftung, eben Digital Detox, gehört zum modernen Leben. Entziehungskuren, Detox-Ratgeber und -Programme boomen.»
Man kann sich zum digitalen Entgiften selber in Camps, Luxushotels oder Klöster einliefern. Man muss seine Geräte abgeben, wird von Therapeuten betreut, begleitet, beraten.
Man kann sich schulen in Achtsamkeit, im Zur-Ruhe-Finden. Darin, sich wieder mit der Natur zur verbinden.
Toxisches Smartphone
Die Vermarktung der digitalen Entgiftung beginnt schon beim Begriff: «Digital Detox arbeitet mit emotional stark besetzten Begriffen wie der Vergiftung», erklärt Mark Eisenegger vom fög.
«Es schwingt eine rigide Dualität mit, von einerseits der toxischen Nutzung des Smartphones und andererseits der Romantisierung der vorhergehenden, nicht-digitalen Ära.»
Es sei ein Backlash, eine Gegenbewegung, sagt Eisenegger und ordnet dies in neuere Untersuchungen seines Forschungsinstituts ein, die zeigen, dass «die ursprüngliche Internet-Euphorie einer deutlich kritischeren Sicht gewichen ist.»
Gelassenheit im digitalen Stress
Ausgerechnet aus dem Silicon Valley kommt der Begriff des «Digital Well-Being». Es sei ein Markt, den die grossen Internetfirmen mitgeschaffen haben, betont Eisenegger: «Das Bedürfnis nach Entschleunigung, Freiheit, Kreativität ist dort gross. Die Leute werfen sich gerne mit Vollgas in ein Digital-Detox-Programm. Dazu gehört bei manchen auch eine gehörige Portion Selbstinszenierung: die Attitüde, gegen den Strom zu schwimmen.»
Die meisten dieser Kurse seien auch offensichtlich für Besserverdienende, wenn man sich die Kosten anschaue, sagt Eisenegger.
«Pfläschterli-Politik» in der Arbeitswelt
Schaut man auf die Basis – auf die, die Tag für Tag vor drei Bildschirmen sitzen, wie es in der Technologie-, Dienstleistungs-, Kommunikationsbranche der Normalzustand ist – dann fragt man sich, wie man es unter Termindruck schaffen soll, mit Gelassenheit und Digital-Well-Being im Grossraumbüro zu sitzen, in dem es keine persönlichen Arbeitsplätze mehr gibt.
In Unternehmen würden durchaus Kurse zur Selbstentgiftung angeboten, aber im betrieblichen Alltag würde man das als «Pfläschterli-Politik» begreiffen, sagt Marc Wülser, Fachmann für gesundheitsförderliche Arbeitsgestaltung.
Spreche er die digitale Überflutung in Firmen oder Teams an, dann sei der Reflex: «Alle wissen, dass es das Problem gibt. Jeder kennt zwei, drei Leute, bei denen man sagt: ‹Der müsste jetzt aber mal den Compi abstellen.› Aber man spricht zu wenig darüber.»
Wenige Unternehmen würden sagen: Ja, das Thema schauen wir gemeinsam an. Es sei schwierig darüber zu reden.
«Wir leben in einer Leistungsgesellschaft», sagt Wülser: «Da ist nichts mit Detox, sondern eher mit Vollgas geben.»
Grosse Unsicherheit in Unternehmen
Aber es gebe auch Ausnahmen, erzählt Wülser. Bei einem Team, mit dem er kürzlich gearbeitet habe, ging es um das Thema chronische Überforderung.
«Das konnte man offen besprechen. Dann wurden Massnahmen verabredet wie: Für eine definierte Zeit werden keine Mails nach 18 Uhr gelesen, auch nicht von der Geschäftsleitung. Oder: Jeder arbeitet 20 Prozent weniger.» Aber das muss ein Team erst mal entscheiden – und ein Unternehmen muss sich das leisten (können).
Firmen befänden sich in einem schwierigen Stadium, was die Digitalisierung angehe, sagt Wülser: «Sie befinden sich zwischen ‹nicht mehr› und ‹noch nicht›.»
Firmen würden merken, dass das, was man bislang gemacht hat, nicht mehr funktioniert: Dienst nach Vorschrift, streng definierte Prozesse, geregelte Arbeitszeiten, feste Arbeitsorte.
Ideen und Konzepte zum Umgang damit gibt es viele. Aber eigentlich wüssten wir noch nicht richtig mit dem Neuen umzugehen, sagt Wülser: «Dazu verändert sich das Feld auch nach wie vor zu schnell. Das macht unsicher.»
Es muss nicht gleich Meditation sein
Die Frage sei, was aus dieser Unsicherheit heraus resultiere: «Da kommen Trendgurus, die angebliche Lösungen oder Alternativen verkaufen. Oder gleich die Inquisition, die versucht, alles Digitale mit Haut und Haaren auszurotten.»
Handyverbote gehören dazu, oder dass Firmen Mitarbeitern im Urlaub das Mail abstellen. «Das ist als Symptombekämpfung gut, löst aber nicht das Problem.»
Den Umgang mit Kommunikationstechnologien müsse man nüchterner angehen, sagt Wülser und rät: «Bevor ihr zum Entgiften ins Kloster geht, geht doch einfach mal offline. ‹Schalt' das Schiissgerät ab!› Wenn das nicht reicht, kann ich immer noch Meditationswochen machen.» Für Menschen mit ernsthaften Problemen seien solche Massnahmen sicherlich angezeigt.
Klar getrennte Rollen
Konsens ist: Grenzen zwischen Arbeit und Privatleben werden durch die Digitalisierung verwischt. Das Smartphone wird zum Symbol dafür. Es sei «die Bündelung von Entgrenzung», sagt Wülser.
Mancher wisse nicht, ob er schon zu Hause oder noch im Büro sei. Mancher sehne sich zurück in eine Zeit, als die Rollentrennung klarer war.
«Verschiedene Rollen zu haben, ist nicht ungesund – sie müssen nur geklärt sein und die jeweiligen Erwartungen auch.» Das bedeute zum Beispiel, dass ein Partner den anderen fragen müsse, ob es ok sei, wenn er nach dem Abendessen noch zwei Stunden arbeite. «Es muss thematisiert werden und für alle stimmen.»
Was innerhalb der Familie zu klären ist, gilt auch innerhalb von Teams, von Unternehmen: «Wenn der Chef nachts Mails schreibt, muss man klären, wann er eine Antwort erwartet. Wenn’s zu Bürozeiten reicht, nimmt das extrem Dampf raus. In Teams müssen das alle wissen und sich entsprechend organisieren», so Wülser.
Was will ich vom Leben?
Die Digitalisierung ist die Revolution unserer Zeit. Die neurologische, emotionale, soziale Überforderung ist für viele zum Dauerzustand geworden. Wir können uns nicht mehr entziehen. Wir müssen lernen, damit umzugehen.
Es gehe nicht darum, unter der Prämisse einer Vergiftung oder Verteufelung über unsere Lebens- und Arbeitsbedingungen zu sprechen, sagt Wülser. Vielmehr müsse man sich selbst ein paar grundsätzliche Fragen beantworten.
Die Digitalisierung fordert uns heraus, über unser Leben nachzudenken. Was macht für mich Sinn, was erfüllt mich? Mit wem will ich meine Zeit verbringen? Von wem brauche ich Wertschätzung?
«Das klingt auf den ersten Blick einfach, aber diese Fragen sollte man primär beantworten.» Vielleicht komme man zum Schluss: «Ich will nicht mehr so viel arbeiten, weil Freunde und Familie darunter leiden.»
Man müsse sich für etwas entscheiden, aber vor allem gegen unendlich viel anderes, sagt Wülser: «Ich nenne das ein schmerzhaftes Abschiednehmen.»
Was Experte Wülser sagt, das fordert der kleine Emil in Hamburg intuitiv: «Handy wek.»