Mit der jährlichen Wahl des Unworts macht eine deutsche Jury aus Sprachwissenschaftlern und -wissenschaftlerinnen auf den Gebrauch problematischer Wörter aufmerksam. Oft geht es um neutrale Begriffe, die ideologisch vereinnahmt werden.
«Remigration» als Kampfbegriff
So auch beim Unwort des Jahres 2023: «Remigration» ist eigentlich ein sozialwissenschaftlicher Begriff, der zum Beispiel die freiwillige Rückkehr verfolgter Juden nach Deutschland beschreibt.
Gemäss der fünfköpfigen Auswahl-Jury werde das Wort heute meist als «rechter Kampfbegriff» und «beschönigende Tarnvokabel» verwendet. Es sei, so die Jury, «zu einem Euphemismus für die Forderung nach Zwangsausweisung bis hin zu Massendeportationen von Menschen mit Migrationsgeschichte geworden.»
Die Begründung klingt eher nach soziologischer Analyse als nach sprachwissenschaftlicher Ausdifferenzierung. Mit dem Thema befasse sich die Politolinguistik, die sprachliche Strategien wie Begriffsumdeutungen untersuche, erklärt Constanze Spiess. Sie ist Jury-Mitglied und Sprachwissenschaftlerin an der Universität Marburg.
Vorschläge aus dem Volk
Die «Unwort»-Aktion besteht seit 1991 und stellt als «unabhängige zivilgesellschaftliche Aktion» eine Stimme im Diskurs dar, so Spiess. Jeweils bis Jahresende können Bürger und Bürgerinnen Begriffe einreichen. «Remigration» sei 27-mal eingesandt worden.
Erst die nachfolgenden Recherchen und Kontextualisierungen führten zur Auszeichnung durch die Jury: «Unser Anliegen ist, die Mechanismen, die dem Wortgebrauch zugrunde liegen, offenzulegen und für den Sprachgebrauch zu sensibilisieren», sagt Spiess.
Die grosse Gefahr von vermeintlich harmlosen Begriffen wie «Remigration» sei, dass mit dem Wort hochgefährliche Konzepte verbunden seien, die über Bücher oder Vorträgen in den allgemeinen Sprachgebrauch eindringen. «Viele Menschen wissen nicht, welche Bedeutungskonzepte damit verbunden sind», sagt Spiess, «dadurch können rechtspopulistische und rechtsextreme Positionen als normal empfunden werden.»
Kritik an Unwort-Kür
Diese Überlegungen und Begründungen der Jury erhalten stets auch Gegenwind. So schreibt ein User auf X als Kommentar auf einen Post: «Diese Jury spielt sich seit 30 Jahren als Sprachpolizei auf und will die öffentliche Debatte im Sinne ihrer antideutschen Ideologie lenken.»
Ein anderer Nutzer schreibt: «Komisch nur, dass #Remigration bis vor zwei Wochen kaum im deutschen Sprachschatz vorkam.» Der Begriff ist tatsächlich erst seit kurzem Teil einer deutschlandweiten Debatte. Das Recherchenetzwerk Correctiv hatte ein geheimes Treffen von AfD- und CDU-Politikern und Rechtsextremen öffentlich gemacht, bei dem «Remigration» diskutiert wurde. «Das war Zufall», sagt Spiess. Der Begriff sei bereits im Januar 2023 im Deutschen Bundestag aufgetaucht.
Die Frage stellt sich auch, ob das «Unwort» rechtspopulistischen Kräften dient, indem ein problematischer Begriff weiter verbreitet wird. «Es ergibt wenig Sinn, über einen verharmlosenden Sprachgebrauch Bescheid zu wissen und damit hinterm Berg zu halten – aus Angst, den Rechten zu viel Beachtung zu schenken», lautet Spiess Antwort. Dann dürfte es auch Recherchen wie die von Correctiv nicht geben.