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Schriftsteller und Historiker Doron Rabinovici über den Hamas-Angriff auf Israel
Aus Kultur-Aktualität vom 10.10.2023. Bild: Keystone / EPA/ ATEF SAFADI
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Doron Rabinovici zu Israelis «Die Menschen sind in ihrem Selbstbild erschüttert»

Der Schriftsteller Doron Rabinovici wurde 1961 in Tel Aviv als Sohn zweier Holocaust-Überlebender geboren. Er lebt in Wien und beschäftigt sich in seinen Romanen, Erzählungen, Hörspielen, Bühnenstücken und historischen Werken mit Rechtspopulismus und Fremdenfeindlichkeit.

Nach dem Grossangriff der Hamas auf seine Heimat vermisst er die Solidarität – und geht mit Relativierungen hart ins Gericht.

Doron Rabinovici

Schriftsteller

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Doron Rabinovici ist in Tel Aviv geboren und lebt als Schriftsteller und Historiker in Wien. Er schreibt Kurzgeschichten, Romane, Essays, Hörspiele, Bühnenstücke und historische Werke.

Zuletzt erschien von ihm 2022 sein Roman «Die Einstellung» über die toxische Mechanik des Rechtspopulismus. Aktuell ist er Residenzgast am Aargauer Literaturhaus in Lenzburg.

SRF: Doron Rabinovici, wie erlebten Sie den Moment, als Sie vom Angriff der Hamas erfuhren?

Doron Rabinovici: Ich wachte in der Früh auf und die Meldungen überschlugen sich. Ich habe mich auf die israelischen Medien gestürzt und meine Verwandten in Israel kontaktiert. Ich bin zwar weit weg, aber seither in einer merkwürdigen Art des Alarmzustands. An meinem Roman weiterzuschreiben, war bisher unmöglich.

Welche Kanäle ziehen Sie zu Hilfe?

Fernsehen, Radio, Twitter (X). Gleichzeitig erhalte ich Nachrichten aus der Community: Wer wurde alles einberufen? Wer sorgt sich um Verwandte und Angehörige? Eines der Massaker passierte in einem Kibbuz, den mein Onkel und meine Tante gründeten, in dem Freunde von mir eine Weile lebten und den ich besuchte.

Angriff auf Israel

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Berichte und die neusten Entwicklungen finden Sie auf der Übersichtsseite zum Angriff der Hamas auf Israel.

Die Orte sind Ihnen also bekannt?

Ja, und es wurden Videos geteilt, das macht die Sache nicht leichter. Teilweise sind die Videos real. Aber zumeist handelt es sich um Fake- und Propagandavideos der Täter, die ihre Kriegsverbrechen feiern. Das ist alles sehr schwer auszuhalten. Es handelt sich hier nicht um Kriegsverbrechen, die als Kollateralschaden in Kauf genommen werden. Bei diesem Angriff waren Kriegsverbrechen das eigentliche Ziel.

Normalerweise betrachten Sie als Historiker Geschehnisse aus einer Distanz. Nun sind Sie persönlich betroffen. Wie gehen Sie damit um?

Jüdische Einrichtungen sind seit meiner Kindheit bewacht und bedroht. Doch was wir jetzt erleben, ist eine ganz andere Dimension. Insofern glaube ich, dass der Nimbus der gesicherten Grenze zerstört wurde.

Sie müssen sich vorstellen: Das jüdische Dasein ist seit Jahrhunderten prekär. Pogrom, Massenmord, Vernichtung – das wurde uns als Geschichte beigebracht. Und dann lernten wir, dass mit 1948 etwas Neues entstanden war. Eine Wehrhaftigkeit und Souveränität. Wenn man als jüdischer Jugendlicher aufwächst, identifiziert man sich mit den wehrhaften Beispielen. Ich merke nun, wie sehr die Vorkommnisse die Menschen in ihrem Selbstbild, in ihrem Selbstbewusstsein, in ihrem Dasein erschüttern.

Israelis nach einem Raketeneinschlag aus Gaza in Beitar Illit.
Legende: Der Nimbus der gesicherten Grenze ist zerstört: Israelis nach einem Raketeneinschlag aus Gaza in Beitar Illit. Keystone / AP Photo / Maya Alleruzzo

Man war sich der Gefahr bewusst, aber mit dem Ausmass konnte niemand rechnen?

Man erwartet etwas, aber wenn es eintritt, wird man trotzdem nicht damit fertig. Wir müssen erkennen, dass die Hamas in weiten Teilen der Öffentlichkeit falsch wahrgenommen wurde. Diese Kriegsverbrechen sind nicht einfach ein Exzess, sondern eine jahrzehntelange Strategie.

Wie nehmen Sie die Reaktionen auf den Angriff wahr?

Viele geben angesichts der Gräueltaten zu bedenken, dass es auch auf der israelischen Seite Ungerechtigkeiten gibt, nationalistische und sogar rechtsextreme Positionen. Das alles ist in diesem Kontext nichts anderes als Relativierung. Was es jetzt braucht, ist eine klare Sprache. Diese Kriegsverbrechen sind Ausdruck einer genozidalen Ideologie.

Nach dem schrecklichen Attentat 2015 auf Charlie Hebdo in Paris gab es spontane und europaweite Solidaritätskundgebungen. Es stand nicht mehr zur Debatte, ob man der Meinung war, dass Charlie Hebdo richtig oder falsch gehandelt hatte. Ich würde mir wünschen, dass das in diesem Fall auch so gesehen wird.

Das Gespräch führte Bodo Frick.

Radio SRF 2 Kultur, Kultur-Aktualität, 10.10.2023, 17:10 Uhr ; 

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