Nach den israelischen Geiselnahmen durch die Hamas steht Israel laut Peter Neumann unter Zugzwang. Neumann ist Professor für Sicherheitsstudien am King’s College in London und weiss, wie Verhandlungen zwischen Israel und der Hamas in der Vergangenheit abliefen und wieso es dieses Mal anders sein könnte.
SRF News: Welchen Zweck verfolgt die Hamas mit den Geiselnahmen?
Peter Neumann: Ich glaube, die Geiseln haben zwei Funktionen für die Hamas. Die erste ist die Demütigung Israels. Alle Welt kann sehen, hier sind Israelis in palästinensischer Gefangenschaft. Die Hamas kann mit ihnen machen, was sie möchte. Sie hat die absolute Macht über die Geiseln. Das ist natürlich für viele Israelis sehr, sehr demütigend. Auf der anderen Seite haben diese Geiseln natürlich die Funktion, die Israelis in den Gazastreifen zu locken. Das möchte die Hamas. Sie möchte, dass die Israelis kommen, versuchen die Geiseln zu befreien, sich dabei in Häuserkämpfen verwickeln und so alle möglichen hässlichen Bilder produzieren, sodass am Ende quasi eine Art Täter-Opfer-Umkehr entsteht. Nicht mehr die Hamas stehen dann als Täter da, sondern die Israelis.
Ich glaube, aktuell haben weder die Hamas noch die Israelis die Geduld dazu.
Wie schätzen sie die Chancen ein, dass es zu Verhandlungen kommt?
Die Chancen für Verhandlungen sind sehr, sehr gering. Zum einen, weil die Israelis sich nicht darauf einlassen wollen. Sie wollen ihre Leute befreien. Sie wollen auch, dass alle Leute sehen, dass sie von Israelis befreit wurden. Zum anderen wissen wir aus Erfahrung in der Vergangenheit, dass Geiselverhandlungen zum Teil jahrelang dauern. Das sind Vermittlungsbemühungen, die sich über viele Jahre erstrecken. Ich glaube, aktuell haben weder die Hamas noch die Israelis die Geduld dazu.
Werfen wir einen Blick auf vergangene Verhandlungen zwischen Israel und der Hamas. Wie engagiert ist Israel bei solchen Verhandlungen?
Also in der Vergangenheit war es so, dass Israel durchaus verhandlungsbereit war und bereit war, sogar nur einen Soldaten von der israelischen Seite gegen Tausende von Gefangenen auf der palästinensischen Seite zu tauschen. Ich glaube, es ist ein bisschen anders diesmal, weil der Druck so hoch ist. Der Druck auf den Premierminister und der Druck der politischen Situation. Die israelische Bevölkerung erwartet, dass jetzt schnell etwas passiert. Aber Geiselverhandlungen dauern immer sehr lange.
Die Gefahr ist natürlich, dass sich eine zweite Front öffnet.
Wo sehen Sie die Gefahren für Israel bei den Verhandlungen?
Die Gefahr ist natürlich, dass sich eine zweite Front öffnet. Die Konzentration der Israelis – der Welt – ist jetzt ganz auf dem Gazastreifen mit den Geiseln. Dort konzentrieren sich die Truppen. Auf der anderen Seite gibt es natürlich im Norden von Israel, an der Grenze zum Libanon, die Hisbollah, die eine zweite Front eröffnen könnte. Und wenn da nicht gleichzeitig die Aufmerksamkeit ist, dann könnte Israel ein weiteres Mal überrascht werden.
Wie schätzen Sie die Chancen ein, dass Israel eine militärische Offensive startet, um die Geiseln zu befreien?
Die Chance ist sehr hoch. Ich glaube, die Israelis haben ziemlichen Druck zu demonstrieren, dass sie diese Leute befreien können, ohne dass sie irgendwelche Kompromisse mit der Hamas eingehen. Deswegen ist das die präferierte Option. Die Gefahr dabei ist natürlich, wie bereits erwähnt, dass sich die Israelis in einen Häuserkampf verwickeln, der sie am Ende schlecht aussehen lässt, obwohl sie die Opfer sind.
Das Gespräch führte Detlev Munz.