Das Verfahren gegen Rammstein-Sänger Till Lindemann in Berlin wurde eingestellt. Obwohl zahlreiche Personen sich mit Vorwürfen an die Medien gewandt hatten, hat niemand bei den Behörden Klage eingereicht.
Was können Gründe dafür sein, dass sich mutmassliche Opfer nicht an die Behörden wenden? Einschätzungen von Miriam Suter, Co-Autorin des Buches «Hast du Nein gesagt?» über sexualisierte Gewalt.
SRF: Das Verfahren der Berliner Staatsanwaltschaft ist eingestellt. Bedeutet das, dass der mutmassliche Täter unschuldig ist?
Miriam Suter: Aus juristischer Sicht schon, weil es gar keine Strafanzeige gab. Aber es gibt ja nicht nur die juristische Sicht auf diesen Fall, sondern auch noch die gesellschaftliche.
Wie ist der Fall denn aus gesellschaftlicher Perspektive zu bewerten?
Bei sexualisierter Gewalt müsste man darüber sprechen, dass es auch eine moralische und eine ethische Ebene gibt. Es kann sehr schwierig sein, solche Übergriffe juristisch zu beweisen. Das bedeutet aber nicht, dass nichts passiert ist.
Wir waren bei diesen Vorfällen alle nicht dabei, wir wissen nicht, was passiert ist. Aber wir können sehen, wie dieses Verfahren auf der gesellschaftlichen Ebene aufgerollt wurde: Da war viel «victim blaming», viel Frauenhass. Und es wurden dutzenden Frauen Erfahrungen abgesprochen, die das alle deckungsgleich erzählt haben.
Ein Problem in diesem Vorverfahren war, dass sich mutmassliche Opfer nicht bei der Staatsanwaltschaft oder Polizei gemeldet haben, um auszusagen. Warum melden sich Opfer nicht?
Ein verbreitetes Problem bei Betroffenen von sexualisierter Gewalt ist Scham. Man schämt sich dafür, was einem angetan wurde. Man sieht sich vielleicht auch gar nicht als Opfer. Und man hat vor allem Angst, dass einem nicht geglaubt wird – sowohl von der Polizei als auch später im Gericht.
Was ist aus Ihrer Sicht die grösste Schwierigkeit, wenn ein Opfer bei den Behörden Klage erhebt?
Wir haben in der Schweiz das verbreitete Problem, dass der Polizist oder die Polizistin, die die Einvernahme macht, teilweise nicht genügend sensibilisiert ist. Das ist sicher nicht überall so, aber wir haben bei der Arbeit für unser Buch erfahren, dass oft die Sensibilität fehlt. Das ist für Betroffene oft eine erste Hürde.
Ich glaube nicht, dass ein Schuldspruch eine bessere Heilung zur Folge hätte.
Durch unsensible Befragungen kann es schlimmstenfalls zu einer Retraumatisierung kommen.
Da befinden wir uns in einem starken Wandel. Es gibt immer mehr Zusatzausbildungen, immer mehr Weiterbildungen für Polizistinnen und Polizisten. Es ist aber schon so, dass eine Retraumatisierung stattfinden kann, egal wie sensibel die Befragung abläuft. Das kann gefährlich sein und auch dazu führen, dass es keine oder weniger Anzeigen gibt.
Wenn die Justiz Vorfälle wie den Fall Lindemann nicht weiterverfolgt: Was bleibt den mutmasslichen Opfern dann übrig?
Vielleicht ist es Ohnmacht, vielleicht ist es Wut. Vielleicht findet man für sich einen Weg, damit umzugehen, weil man muss. Das ist eine sehr individuelle Angelegenheit.
Wichtig ist ein persönliches Umfeld, das einen auffängt. Ich glaube nicht, dass ein Schuldspruch in einem solchen Fall unbedingt eine bessere Heilung zur Folge hätte.
Das Gespräch führte Raphael Zehnder.