Einsamkeit ist kaum sichtbar. Aber sie ist weit verbreitet – auch in der Schweiz. Bei der letzten Gesundheitsbefragung gab über ein Drittel der Bevölkerung an, sich manchmal oder oft einsam zu fühlen. Drei Betroffene erzählen.
Ein junger Mann. Er wurde in der Schule gemobbt, heute ist er kein Einzelgänger mehr.
«Die Einsamkeit kam plötzlich. Ich konnte eine Klasse überspringen, dafür musste ich aber das Schulhaus wechseln. In der neuen Klasse hat niemand auf mich gewartet. In den Augen der anderen war ich komisch. Schnell war ich der Aussenseiter.
Ich war damals auch etwas zu schwer. Dann hat das Mobbing angefangen. Ich war ganz allein: Meine Freunde aus der alten Klasse waren in einem anderen Schulhaus, und in der neuen Klasse traute sich niemand, sich mit mir anzufreunden. Aus Angst, selbst zur Zielscheibe zu werden.
Geborgenheit ist das Gegenteil von Einsamkeit.
Einmal kam ich zur Schule. Ein paar Jungs haben angefangen, ein Lied zu singen. Ein Lied, das sie extra komponiert hatten. Es hat auf mein Gewicht angespielt. Die Situation lastete massiv auf mir, wie ein grosser Stein. Ich hatte auch Suizidgedanken.
Vieles weiss ich nicht mehr. Es ist wie ein Nebel. Ich weiss nur: Es war schrecklich. Ich war in der Klasse mit niemandem verbunden, nicht aufgehoben, wie abgetrennt.
Das alles ist ja keine Tat von jemandem. Aber so hat es sich angefühlt: Als hätte mir jemand etwas angetan. Es war ein Unterlassen. Ein Unterlassen von Zuwendung, von Kontakt. Ich war allein.
Den Begriff ‹Einsamkeit› benutzte ich da noch nicht. Aber rückblickend kann ich sagen, dass es vor allem die soziale Isolation war, die alles so schlimm gemacht hat. Mir fehlte die Geborgenheit von Gleichaltrigen.
Geborgenheit ist das Gegenteil von Einsamkeit. Und in dieser Klasse war ich allein unter vielen. Ich war entbehrlich. Auf mich ist es nicht angekommen.
Als ich ins Untergymnasium kam, hat sich die Situation endlich gelöst.
In den Pausen las ich ein Buch oder spielte auf dem Handy. Quasi, um die Wartezeit rumzubringen.
Zwar kamen einige Schüler der alten Klasse auch in meine neue Klasse und brachten den Drive mit. Aber jetzt gab es Leute, die aufstanden und sagen: ‹Hey Jungs, das geht so nicht!›
Und es kam die erste Freundin. Mein Selbstvertrauen kehrte zurück. Trotzdem blieb ich ein Einzelgänger. Ich ass allein Zmittag. In den Pausen las ich ein Buch oder spielte auf dem Handy. Quasi, um die Wartezeit rumzubringen.
Vielleicht fehlte mir unbewusst noch das Vertrauen in andere Menschen und ich bevorzugte es, allein zu sein. Aus Sicherheitsgründen, sozusagen.
Heute bin ich kein Einzelgänger mehr. Ich habe Freunde, die mir sehr nahe sind. Die ich mitten in der Nacht anrufen könnte – und sie mich.
Seit einem Jahr arbeite ich ehrenamtlich bei Pro Juventute. Im ‹Peer-Chat› berate ich Jugendliche. Es geht um verschiedene Themen. Einsamkeit ist eines davon.»
(Aufgezeichnet von Anna Jungen)
Eine Frau, Mitte 40. Sie lebt in einer Agglomerationsgemeinde im Mittelland, arbeitet im sozialen Bereich.
«Das Thema Einsamkeit beschäftigt mich immer wieder. Als Kind wohnte ich an einem Ort, wo es kaum Kinder in meinem Alter gab. Als junge Berufstätige wurde ich – zack, bumm – verantwortlich für eine Klasse von 28 Kindern, an einem Ort, wo ich niemanden kannte.
Ich fand es schwierig, neben dem anspruchsvollen Berufseinstieg private Kontakte zu knüpfen. Später arbeitete ich an Projekten, die mit dem übrigen Betrieb kaum verbunden waren.
Ich gehörte nicht richtig dazu. Wegen des Berufs bin ich viel umgezogen. Das soziale Netz hat dadurch sehr gelitten. Meine Eltern sind früh gestorben und ich habe keine Familie gegründet.
Mir fehlt der Austausch, das Gefühl, erwartet, gebraucht und auch mal vermisst zu werden. Ein Nest – wie in einer Familie: Ob’s gut läuft oder nicht, man gehört dazu und kann auch die Freude mit jemandem teilen.
Momentan besuche ich einen Tanzkurs, auch, um auszugehen. Aber es dauert sehr lange, Beziehungen aufzubauen, bis zum Beispiel jemand fragen würde, ob ich mal an einem Sonntag zum Skifahren mitkäme.
In manchen Wochen bin ich privat niemandem begegnet.
Die Freizeit verschlafe ich oft oder ich bin einfach zu Hause. Es kam vor, dass ich mich angezogen und geschminkt habe und dann gemerkt: Ich schaffe es nicht, auszugehen.
In manchen Wochen bin ich privat niemandem begegnet. Seit einigen Jahren ist ja das Telefonieren nicht mehr so trendy. Mit WhatsApp zu kommunizieren finde ich sehr oberflächlich. Was soll ich auch auf die Frage ‹Wie geht’s?› antworten?
Um die Einsamkeit zu überwinden, habe ich auch eine Selbsthilfegruppe gestartet. Ich habe beobachtet: Einsame Menschen stellen oft sehr hohe Ansprüche an die anderen – und auch an sich selbst.»
(Aufgezeichnet von Raphael Zehnder)
Eine Frau, 79-jährig, sie lebt in einer Stadt in der Schweiz.
«Ich gehe nicht unter Menschen, weil ich schwerhörig bin. Ich gehe mit meinem kleinen Hund spazieren. In jungen Jahren war ich sportlich, mein Leben hatte einen Sinn. Ich hatte ein Kind.
Beruflich war ich gefragt, als Köchin und Haushälterin. Ohne Geld ist heute alles nichts. Die Gesellschaft, die Digitalisierung und die technische Entwicklung, alles hat sich radikal geändert. Ich kann damit nicht Schritt halten.
‹Guten Tag, wie geht es Ihnen?› Das sind meine Gespräche.
Heute spricht man nicht mit Menschen. Man hat ein Mobiltelefon, tippt darauf herum und fertig. Meine Tochter wohnt in einer Kleinstadt nicht weit weg, manchmal schicke ich ihr über WhatsApp Bilder, um ihr eine Freude zu machen. Ich sehe sie drei-, viermal im Jahr. Sie hat ihr eigenes Leben. Ich will sie nicht mit meinen Gedanken belästigen.
‹Guten Tag, wie geht es Ihnen?› Das sind meine Gespräche. Oder es geht um den Hund. Das ist alles. Ich habe keine Kontakte. Die Leute interessieren sich nicht für andere. Ich nehme es ihnen nicht übel. Früher haben sich die Leute mehr gebraucht, sich mehr geholfen. Ich bin schon älter, das ist das Problem. Ich will sterben.
Mich unter den Zug zu werfen, das ist Blödsinn.
Ich sollte Platz machen für die Jungen. Seit einigen Jahren bin ich bei Exit angemeldet. Eine Frau der Organisation war bei mir. Sie wollte eine ärztliche Bewilligung und eine Erklärung meiner Tochter. Meine Tochter sagte: ‹Ach, Mama! Du darfst nicht sterben!› Ich bin zu gesund, ich bekomme die Bewilligung für Sterbehilfe nicht.
Wie soll ich sonst sterben? Ich kann gut schwimmen, also kann ich nicht ins Wasser gehen. Mich unter den Zug zu werfen, das ist Blödsinn. Ich sollte dem Ganzen ein Ende machen, ohne jemandem psychischen Schaden zuzufügen.»
(Aufgezeichnet von Raphael Zehnder)
Wie kann man die Herkulesaufgabe stemmen?
Die Erzählungen dieser drei Betroffenen zeigen: Einsamkeit ist für viele eine Bürde, die sie Jahre und Jahrzehnte mit sich tragen.
Sich davon zu befreien ist ein langer Prozess, eine Herkulesaufgabe. Nicht alle finden die Kraft dafür.
Was helfen mag, ist die Gewissheit, nicht allein zu sein. Betroffene organisieren sich in Selbsthilfegruppen, versuchen über Hobbys und Vereine, Kontakte zu anderen Menschen zu knüpfen, und wenn das nicht gelingt, eine Fachperson beizuziehen: eine Psychotherapeutin, einen Psychologen.
Sich selbst zu engagieren, gut zu sich selbst zu schauen: Das ist die Grundvoraussetzung, um allmählich immer grössere Löcher in die Isolation zu schlagen.
Sendung: Radio SRF2 Kultur, Kontext, 2.3.2020, 9:03 Uhr.