Jean Ziegler mag deutliche Worte. Manchmal schiesst er dabei übers Ziel hinaus. Diesmal nicht. Denn die Verhältnisse, mit denen er sich in seinem neuen Buch «Die Schande Europas» als Beobachter und Analytiker beschäftigt, sind schrecklich.
Ziegler nimmt die Zustände in den Flüchtlingslagern auf fünf griechischen Inseln im ägäischen Meer unter die Lupe. Es sind die sogenannten «Hotspots» oder «Erstaufnahmeeinrichtungen» der Europäischen Union.
Warten auf die Erstbefragung
Das Lager Moria auf Lesbos besuchte Ziegler vor einem Jahr. Die Flüchtlinge haben dort weder Zugang zu sauberem Wasser noch akzeptablen sanitären Anlagen. Das Essen ist oft verdorben. Es fehlt an Wohncontainern, an ärztlicher Versorgung, an Heizung.
35 Prozent der Flüchtlinge in den griechischen Lagern sind Kinder. Sie besuchen keine Schule und spielen zwischen Abfall und Dreck. Unbegleitete Minderjährige schlafen in Zelten mit Erwachsenen, was sexuellem Missbrauch Tor und Tür öffnet.
Frauen werden ebenfalls vergewaltigt. Aus Angst suchen sie nachts die Latrinen nicht auf und erleichtern sich beim Schlafplatz. Das Gelände ist übersät mit Abfall, es wimmelt von Ratten.
In den inoffiziellen Lagern ist die Situation noch schlimmer. Für die Flüchtlinge gibt es nichts zu tun, ausser auf die Erstbefragung zu warten. Manche warten zwei, drei Jahre in diesem Elend am Rande Europas.
Hässliche Szenen
Die fünf Hotspots dienen laut Jean Ziegler nur einer Strategie: Migranten abzuschrecken, damit sie gar nicht erst europäischen Boden betreten und ein Asylgesuch stellen können.
Deshalb jagen die griechische und türkische Küstenwache und Schiffe der europäischen «Grenzagentur» FRONTEX und der NATO Boote mit Migranten. Hässliche Szenen.
Gemäss den Schengen-Dublin-Verträgen verantwortet das Ankunftsland das Asylprozedere. Die EU hat Griechenland diese Zuständigkeit aber abgenommen. Beamte des «Europäischen Unterstützungsbüros für Asylfragen» führen die Erstbefragung durch und erstellen die Akte.
Die griechischen Behörden, die über das Asylgesuch entscheiden, hätten keinen Kontakt mit den Asylbewerbern, schreibt Ziegler.
Vergessene Menschenrechte
«Die Schande Europas» ist zum einen ein sachliches, klares Reportage-Buch: Jean Ziegler schreibt über seinen Aufenthalt auf Lesbos, er spricht mit Migrantinnen und Migranten, mit Mitarbeitenden von Nichtregierungsorganisationen, mit dem UNO-Generalsekretär, mit griechischen Funktionären.
Zum anderen ist es ein Buch übers Völkerrecht: Ziegler stellt den Verhältnissen, über die er berichtet, den Text der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, der Flüchtlings- und der Kinderrechtskonvention der UNO gegenüber.
Auf den griechischen Inseln vergisst Europa die Menschenrechte. Dass Jean Zieglers Buch den Titel «Die Schande Europas» trägt, ist begreiflich.