Im Dorfcafé von Moria auf der Insel Lesbos. Die überwiegend älteren Männer trinken Kaffee und unterhalten sich über die Geschehnisse. Seit fünf Jahren haben sie nun das Flüchtlingscamp zwei Kilometer von ihrem Dorf entfernt.
Nicht nur die neu ankommenden Flüchtlinge seien unerwünscht, auch die Mitarbeiter der Nichtregierungsorganisationen sollen weg, sagt der 61-jährige Giorgos: «Schon bei ihrem Anblick bekomme ich Ausschlag! Die profitieren von ihren fetten Gehältern und das Ergebnis ihrer Arbeit ist gleich null! Dahinter stecken doch andere Machenschaften!»
Von kriminellen und parasitären NGOs hatten sogar Regierungsvertreter gesprochen. Das sei bei vielen hängen geblieben, sagt Elli Kriona. Die Rechtsanwältin arbeitet seit drei Jahren für die jüdisch-amerikanische NGO «Hias» auf Lesbos.
Es findet eine Hexenjagd statt. Wir leiden die letzten Tage; wir sagen nicht mehr, dass wir für NGOs arbeiten.
Jetzt, wo Erdogan die Grenzen aufgemacht hat und noch mehr Flüchtlinge ankommen, fühle sich der wütende Mob erst recht berechtigt, gegen Migranten genauso wie gegen Flüchtlingshelfer vorzugehen, sagt sie: «Es findet eine Hexenjagd auf der Insel statt. Wir leiden die letzten Tage; wir sagen nicht mehr, dass wir für NGOs arbeiten.»
Verbale Auseinandersetzungen mit einzelnen Personen habe es auch früher gegeben. Aber jetzt werde die Wut erstmals von oben gesteuert: «Die Regierung gibt den Leuten freie Hand zur Selbstjustiz.»
Immer wieder wurden in den letzten Tagen Mitglieder von NGOs verbal oder körperlich angegriffen, eine Verpflegungsstation des UNHCR für neu ankommende Migranten zerstört.
Efi Latsoudi erlebt die Entwicklungen der letzten Tage mit Schrecken. Sie gehört zu den Inselbewohnerinnen, die seit Beginn der Flüchtlingskrise vor Ort waren und den ankommenden Flüchtlingen geholfen haben. 2016 hat sie stellvertretend für die Helfer eines selbstverwalteten Flüchtlingscamps auf Lesbos den Nansen-Flüchtlingspreis der Vereinten Nationen bekommen.
EU bleibt tatenlos
Die EU sei mitverantwortlich dafür, dass die Stimmung derart gekippt ist, sagt sie. Denn statt Lesbos und die anderen Ägäisinseln zu entlasten, toleriere sie die verschärfte Asylpolitik der griechischen Regierung: «Diese Menschen wollen nach Europa, wir befinden uns zufällig auf ihrem Weg. Europa hat uns aber alleine gelassen, und sieht zu, wie wir die Rechte dieser Menschen verletzen, wie wir sie zu unseren Feinden machen, wie unsere Gesellschaft radikalisiert wird.»
Die EU müsse Griechenland darin unterstützen, die ankommenden Flüchtlinge willkommen zu heissen und ihnen eine schnelle Weiterreise im Rahmen der Familienzusammenführung und eines europäischen Umverteilungsprogramms ermöglichen. Worauf sich die EU-Länder aber bisher nicht einigen können.
Keine Asylanträge mehr
«Die Situation wird von Tag zu Tag unerträglicher», sagt Latsoudi. Neu ankommende Migrantinnen und Migranten werden seit Tagen nicht mehr ins überfüllte Camp von Moria gebracht. Nicht, weil die Regierung die Lage im Camp nicht weiter belasten will, sondern weil Inselbewohner die Strasse geschlossen halten.
Stattdessen sollen die Migranten erstmal auf einem Kriegsschiff, das heute im Hafen von Mytilini angekommen ist, registriert und schnellstmöglich abgeschoben werden. Einen Asylantrag dürfen sie nicht stellen. Denn Griechenland hat das Verfahren für neu ankommende Migranten für einen Monat ausgesetzt.
Echo der Zeit, 4.3.20, 18 Uhr; imhm; gotl