Man sieht sie andauernd: Angela Merkel im Fernsehen, in der Zeitung, auf irgendeinem Gipfel. So aber hat man die langjährige deutsche Bundeskanzlerin noch nie gesehen. Auf den Portraits der Fotografin Herlinde Koelbl begegnet man dem Menschen Angela Merkel.
30 Jahre lang hat die Fotografin Merkel fotografisch begleitet. Jetzt sind ihre Fotos in einem eindrucksvollen Bildband erschienen.
1991 sitzt da eine schüchterne junge Frau mit grossen Augen. 1994 hält sie den Kopf schräg, schaut verschmitzt nach oben. 2018 stemmt sie die Hände in die Hüften und lacht. All diesen Bildern ist eines gemein: Man fühlt sich der Portraitierten unglaublich nah.
Ein geschützter Raum
Das liegt unter anderem an Koelbls «Versuchsaufbau». Sie habe Angela Merkel nie Posen vorgeschlagen, erzählt sie: «Ich habe immer nur gesagt: ‹Schauen Sie mich mit einem ruhigen, offenen Blick an.› Ansonsten konnte sie machen, was sie wollte.»
Koelbl gab Merkel einen geschützten Raum – auch, weil von vorneherein klar war, dass die Bilder erst Jahre später veröffentlicht werden sollten.
Fotografin verschwieg ihr Lebensprojekt
Das Setting war immer dasselbe: ein Stuhl vor einer weissen Wand. Einmal im Jahr kam Koelbl und fotografierte mit ihrer analogen Hasselblad – ein Portrait, eine Ganzkörperaufnahme.
1991 begann sie das Projekt mit 15 Politikern und Wirtschaftsbossen, die sie acht Jahre lang fotografierte und interviewte, darunter Angela Merkel. Als Angela Merkel Kanzlerin wurde, setzte Koelbl die Fotosessions fort, ohne je öffentlich über das Projekt zu sprechen.
«Zeigen, wie das Amt den Mensch verändert»
Das reduzierte Setting sollte Raum lassen für die wesentliche Frage, die Koelbl umtrieb: «Ich wollte zeigen, wie das Amt den Menschen verändert. Man ist da einem unvergleichlichen Druck ausgesetzt – besonders als Bundeskanzlerin. Das ist physisch und psychisch das Härteste, das man sich vorstellen kann.»
Wie die Macht den Menschen Angela Merkel im Verlauf von 30 Jahren verändert hat, spiegelt sich in dem Projekt sehr deutlich: Anfangs wirkt Merkel oft ungelenk, sie weiss nicht wohin mit Armen und Beinen. Ein paar Jahre später posiert sie selbstbewusst, nutzt Stand- und Spielbein.
Merkel gibt sich offen wie nie
Nicht nur die Fotos dokumentieren Angela Merkels extreme Veränderung, sondern auch die Interviews, die Herlinde Koelbl mit ihr zu Beginn ihrer Karriere geführt hat. Darin zeigt sich Merkel so offen wie nie.
Die CDU-Politikerin spricht über ihre eigenen Unsicherheiten, über ihren damaligen Lebensgefährten, darüber ob sie als Politikerin Kinder haben möchte. Und sie erzählt, wie sie lernt, mit dem politischen Gegner umzugehen und sich durchzusetzen.
Die Augen als Spiegel
All diese Erfahrungen spiegeln sich in ihrem Körper, vor allem in den Augen, sagt Herlinde Koelbl: «Es gibt ein Bild von 1994, da schaut sie richtig keck. Die Augen sind fröhlich, neugierig. Dieses Leuchten ist in den letzten Jahren schon weniger geworden.»
Im Zeitraffer zu sehen, wie sich eine so prominente Figur wie Angela Merkel in 30 Jahren verändert hat – das ist sehr berührend. Und auch ein bisschen beängstigend.