Eine Schülerin steht auf dem Sprungbrett und zögert zu springen. Erst als der Sportunterricht endet und die Schulglocke läutet, springt sie. Im allerletzten Moment. Diese Schülerin ist Angela Merkel. Die deutsche Kanzlerin, deren Amtszeit bald endet. Nach 16 Jahren an der Macht tritt sie ab. Freiwillig – das gab es vorher in Deutschland noch nie. Wer ist Merkel und wie hat sie Deutschland geprägt? Mit diesen Fragen hat sich die Publizistin Ursula Weidenfeld in ihrem Buch «Die Kanzlerin. Porträt einer Epoche» beschäftigt.
SRF News: Merkel als zögernde Schülerin auf dem Sprungbrett. Zeigt sich hier bereits, wie sie später regieren wird?
Ursula Weidenfeld: Das ist zumindest das Bild, das sie entwickelt. Man wartet, zögert, geht mit seinen Ängsten und Bedenken um – und im letzten Moment, wenn’s zählt, springt man eben doch. Das ist was Merkel von sich selbst erzählt. Dies auch in Verbindung mit einem anderen Zitat: Sie sagt, sie glaube, dass sie im entscheidenden Moment mutig sei. Das ist das Narrativ der Kanzlerin.
Das Prinzip des Zögerns: Warum hat sie es so weit gebracht?
Es hat sie 16 Jahre lang im Kanzleramt gehalten. Auch weil es den Deutschen sehr entgegen gekommen ist. Wenn man sich überlegt, welche Reformen möglich und nötig gewesen wären – beim Klima, den Sozialversicherungen, in der Wirtschaft, der Finanzpolitik – dann ist Merkel auch der Ausdruck einer deutschen Veränderungs-Unlust.
Woher kommt Merkels Unlust, Reformen anzupacken?
Ich glaube, das hat seinen Ursprung in den Jahren 2003 und 2005. 2003 ist Merkel als Oppositionsführerin und CDU-Chefin mit einem klaren liberalen Reformprogramm angetreten. Das ging weit darüber hinaus was der damalige Kanzler Gerhard Schröder mit der Agenda 2010 umgesetzt hat. Aber sie ist damit in ihrer eigenen Partei gescheitert. Sie hat das Programm dann begraben und ist in eine grosse Koalition mit den Sozialdemokraten getreten. Die Bedingung dafür war, dass es keine Reformen mehr im liberalen Sinne Schröders geben sollte. Das hat sie sofort akzeptiert und dann nie wieder angefasst.
Dennoch: Sie schreiben, Merkel sei eine der modernsten Politikerinnen des 21. Jahrhunderts.
Das bezieht sich auf die Frage, welche Rolle Deutschland im 21. Jahrhundert spielen soll. Helmut Kohl konnte Deutschland immer nur europäisch denken und hat Deutschland deutsch-französisch definiert. Schröder hat ein raubakiges Gegenbild entworfen mit dem Satz: «In Europa wird das gute deutsche Geld verbraten.»
Mit Angela Merkel verbindet man keine heroische Tat, keine grosse politische Leistung.
Beides ging im 21. Jahrhundert nicht mehr. Deutschland musste eine neue Rolle finden. Das hat viel mit seinem ökonomischen Gewicht, aber auch mit dem Brexit und anderen Veränderungen in einer multipolaren Welt zu tun. Merkel hat diese Rolle als eine starke, selbstbewusste Rolle definiert – die sich aber immer eher aufs Moderieren und Ausgleichen, die Rolle des ehrlichen Maklers, beschränkt hat.
Kohl war der Kanzler der Einheit, Schröder der Kanzler der Agenda 2010. Was bleibt von Merkel?
Mit ihr verbindet man keine heroische Tat, keine grosse politische Leistung. Wenn man einmal von ihrem Verhalten in der Migrationskrise absieht. Hier sagen die einen: Das war ihre Überzeugung, ihre grosse Tat. Die anderen finden: Hier hat sie wie immer nicht gehandelt und gar nicht entschieden. Ich glaube, am Ende wird man mit ihr die neue Rolle Deutschlands, seine Definition als selbstbewusstes, wirtschaftlich starkes Land bleiben. Das aber seine Rolle im 21. Jahrhundert – Gott sei Dank – ganz anders buchstabiert als im 20. Jahrhundert.
Das Gespräch führte Simone Hulliger.