Vor rund zehn Jahren entdeckt der Schweizer Historiker Beat Kümin in einem Archiv am Vierwaldstättersee ein merkwürdiges Dokument: dem Text nach zu urteilen ist das Schriftstück jahrelang in einer Turmkugel deponiert gewesen, zusammen mit diversen Gegenständen.
Damals denkt Kümin, das Ganze sei ein kurioser Einzelfall. Heute weiss er von rund 1350 Turmkugeln – in der Schweiz, Deutschland und Österreich. Rund die Hälfte davon, schätzt er, ist gefüllt.
Für Historikerinnen und Historiker seien die Turmkugeln ein «Glücksfall», sagt Kümin: «Da berichten einfache Leute und lokale Gemeinschaften über sich selbst – und das manchmal über Jahrhunderte hinweg.»
Beat Kümin lehrt an der britischen University of Warwick. Jahrelang hat er die Turmkugeln quasi nebenbei erforscht. Nun untersucht er sie im Rahmen eines Forschungsstipendiums der Gerda Henkel Stiftung systematisch.
Das älteste Schriftstück stammt aus Zürich
Was er genau erforscht? Die oft vergoldeten Kugeln, die man unterhalb von Wetterhähnen oder Kreuzen auf Kirchtürmen entdecken kann. Aber auch auf Rathäusern, Schulen und Wehrgebäuden, wie dem Basler Spalentor, sind die geheimnisvollen Turmkugeln manchmal angebracht.
Diese Kugeln mit Dokumenten und Objekten zu befüllen – das ist ein Brauch, der auf das Spätmittelalter zurückgeht. Einst war er im gesamten Gebiet des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation verbreitet.
Heute führen einige Kirchgemeinden diesen Brauch fort – oder beginnen neu damit. Ein spezielles Schriftstück stecke dabei fast immer in den Kugeln, sagt Beat Kümin: eine Urkunde mit Datum, Angaben zur Gemeinde und zum Grund, weshalb man die Turmkugel geöffnet hat – zum Beispiel, weil sie durch einen Sturm beschädigt wurde.
Das älteste bekannte Dokument dieser Art stammt aus Zürich: Es wurde 1467 verfasst – für die Kugel, die sich auf dem Turm des Alten Einsiedlerhofs befand. Heute steht dort das «Zunfthaus zur Meisen».
Von Chroniken, Reliquien und einer Schildkröte
Ein solches Papier mit den wichtigsten Angaben ist also das Mindeste, was in einer befüllten Turmkugel steckt. Darüber hinaus sind der Fantasie keine Grenzen gesetzt: Chroniken, Listen von Amtsträgern, Jubiläumsschriften, Fotografien, Münzen oder Reliquien. «Das ist ein multimediales Paket», sagt Historiker Kümin.
Dieses «Paket» kann immer wieder erneuert und ergänzt werden: Als die Turmkugel der Zürcher Pfarrkirche St. Peter 1996 zum letzten Mal geöffnet wurde, entdeckte man darin Dokumente und Objekte aus 18 verschiedenen Befüllungen – angefangen hatte man den Brauch dort im Jahr 1425.
Auch die kurioseste Füllung, die Kümin kennt, stammt aus Zürich: Als die Turmkugel des Fraumünsterturms im Jahr 2004 geöffnet wurde, entdeckte man darin die gut erhaltenen Überreste einer Schildkröte. Beat Kümin vermutet: Der Panzer der Schildkröte habe vielleicht als eine Art symbolischer Schutzschild gedient.
Denn der Wunsch nach Schutz sei ein Grund, weshalb Menschen die Turmkugeln befüllt hätten, sagt der Historiker. In fast jeder Kugel lasse sich ein Dokument finden, in dem die Menschen Gott um Beistand bitten.
Zugänglich und gleichzeitig verborgen
Die gefüllten Turmkugeln dienten also dazu, mit Gott zu kommunizieren – aber nicht nur mit ihm, sondern auch mit der Nachwelt.
Beat Kümin ist überzeugt: Die Menschen, die die Kugeln einst befüllten, hofften, dass der Brauch weitergeführt würde: «Sie wollten eine Art Kommunikationskette mit ihren Nachfahren aufbauen. Diese Kette dauert im Idealfall von der Errichtung des Gebäudes bis in alle Ewigkeit fort.»
Üblicherweise werden die Turmkugeln nur dann geöffnet und eventuell wieder befüllt, wenn eine Turmspitze renoviert werden muss. Sie sind also nicht permanent zugänglich, wie ein Denkmal oder eine Inschrift. Aber auch nicht für immer verborgen, so wie ein Grundstein. Das macht die Forschung nicht gerade einfacher.
Die Kugeln nur für seine Forschungen zu öffnen – das kommt für Beat Kümin nicht infrage. Stattdessen geht er in Archive und Bibliotheken, durchforstet Lokalzeitungen und die Berichte von Denkmalpflegern. Und: Er ist vor Ort, schaut sich die Gebäude an – und spricht mit den Leuten, die heute eine Kugel befüllen wollen.
Von Missernten und Dampfschiffen
Kümin kennt verschiedene solcher Gemeinden: Die einen hätten den Schnuller ihres jüngsten Gemeindemitglieds beigelegt, andere FFP 2-Masken, wieder andere hätten über die Herausforderungen des Lockdowns berichtet. Die Turmkugeln werfen also Schlaglichter auf das, was den Menschen zu einer bestimmten Zeit wichtig ist.
So schreiben die Leute etwa immer wieder von ihren Sorgen: Sie berichten vom 30-jährigen Krieg, Missernten oder Überschwemmungen. Aber auch von positiven Entwicklungen und vom technischen Fortschritt: «Die Menschen schreiben zum Beispiel über die Eisenbahn und den ersten Telefonanschluss. Oder sie berichten darüber, wie plötzlich Dampfschiffe über den Vierwaldstättersee fuhren.»
Heimliche Botschaften
Immer wieder findet Kümin in den Kugeln aber auch subversive Mitteilungen: Schliesslich kommen die Dokumente normalerweise mindestens 30 Jahre lang nicht wieder zum Vorschein. Viele Menschen äussern sich deshalb sehr offen.
Kümin entdeckte bei seinen Recherchen zum Beispiel eine Nachricht, in der ein Priester den Alkoholkonsum seines Vorgängers kritisiert. In einem anderen Dokument regt sich ein Pfarrer Ende des 19. Jahrhunderts über linke Unruhestifter und «soziale Fantastereien» auf. Er erklärt auch gleich, was er damit meint: den achtstündigen Arbeitstag.
Ausserdem stösst Kümin regelmässig auf Botschaften, die Handwerker heimlich hinzugefügt haben: In der Turmkugel der Hofkirche in Luzern fand er die Nachricht eines Spenglermeisters: 1885 beschwert sich dieser Handwerker über die Bauleitung, weil die seiner Frau verboten hat, ihm das Essen zum Arbeitsplatz zu bringen. Der Spengler berichtet aber auch von Konflikten in China – sein Interesse geht also weit über die Schweiz hinaus.
Wenn Kümin solche bemerkenswerten Zeugnisse entdeckt, freut er sich. Die Kugeln sind für ihn eine Art historisches Überraschungsei – er wisse nie, was ihn erwarte. In den zehn Jahren Forschungsarbeit an dem Phänomen habe ihn besonders eines verwundert: die schiere Masse an befüllten Turmkugeln.
Für ihn steht deshalb fest: «Die Menschen wollen nicht nur in ihre Familie, ihre Gemeinde oder ihren Sportverein eingebettet sein. Sie wollen sich auch mit nachfolgenden Generationen verbinden.»