Als Kind wollte Viktor Dammann Kriminalreporter werden. Er las die Kriminalromane um «Jerry Cotton», verstand das Wort «Recherche» nicht. Jahre später wusste er, was gemeint ist.
In den 1980er-Jahren begleitet er einen Reporter-Kollegen zu einem Prozess. So fing alles an. Von der Einvernahme des Angeklagten bis zum Urteil war er dabei.
Aus dem Kriminal- wurde auch ein Gerichtsreporter. Der grösste Unterschied? Gerichtsreporter seien in erster Linie Berichterstatter: «Sie recherchieren nicht, sondern hören, was im Prozess gesprochen wird. Und man kann überprüfen, was man als Polizeireporter zusammengetragen hat.»
Im Fall des Tierarztes Gabor Bilkei (1999), der des Mordes an seiner Frau angeklagt war, werden fünf Wochen lang Zeuginnen und Zeugen, Ärzte, Gutachter, Polizisten, die Staatsanwältin, Gerichtsmediziner gehört.
Es gehe darum, die Wahrheit zu ergründen, obwohl diese für jeden etwas anderes ist. Es sei denn, der Beschuldigte gesteht.
Die Faszination der Aufklärung
«Am Schluss muss sich ein Bild zusammensetzen, wie ein Teppich mit einem Muster. Da muss nicht jedes kleine Stück passen, aber das Gesamtbild», sagt Dammann.
So, dass man am Ende sagen könne: «Es gibt keine andere Möglichkeit, als dass er diese Tat begangen hat. Viele Indizien und Beweise sprechen dafür. Die Prozesse vor dem leider mittlerweile abgeschafften Zürcher Geschworenengericht waren für mich wie eine Weiterbildung.»
Das zu berichten, habe ihn all die Jahre angetrieben: «Staatsanwalt, Richter, Anwalt, Beschuldigte müssen bestmöglich zitiert werden, damit der Leser, der nicht auf der Bank im Gerichtssaal sitzt, das nachvollziehen kann. Man darf nichts Wesentliches unterschlagen.»
Es gehe weniger um die Faszination des Bösen als vielmehr um die Faszination der Aufklärung, sagt Viktor Dammann.
Der Tierarzt Gabor Bilkei habe die Tat bis zum Schluss bestritten. Die Beweislast war erdrückend. Dammann ist überzeugt, dass er es war.
Taten, die einen bis in den Schlaf verfolgen
Die Journalistin Brigitte Hürlimann erinnert sich an einen Gerichtsfall von 2012: Eine Mutter von drei Kindern hatte ihre Zwillinge im Primarschulalter mit dem Kopfkissen erstickt. Erst bei der Wiederholung des erstinstanzlichen Strafprozesses (die Verteidigung war im ersten Prozess ungenügend) habe sie auch den Mord an ihrem dritten Kind, einem Säugling, gestanden, von dem man bis dahin angenommen hatte, er sei an plötzlichem Kindstod verstorben.
Die Tat verfolgte Brigitte Hürlimann bis in den Schlaf: «Das wurde so detailliert geschildert. Ich sass unmittelbar hinter dieser Frau, weil es so ein kleiner Gerichtssaal war. Das habe ich fast nicht ausgehalten, wirklich nicht.»
«Nimmt die Seele Schaden?»
Angenommen man kommt als Gerichtsreporter oder Reporterin abends heim und jemand fragt: «Liebling, wie war dein Tag?» Was sagt man da?
Brigitte Hürlimann geht erstmal eine Stunde rennen. Das hilft nicht immer. Wie auch «sich die Geschichte in einem Artikel von der Seele zu schreiben» nicht immer hilft. Manchmal sagt sie, wenn sie sich an den Küchentisch setzt: «Fragt einfach nicht.»
«Nimmt die Seele Schaden?» Viktor Dammann antwortet blitzschnell auf die Frage: «Meine nicht.» Man dürfe diesen Beruf nicht machen, wenn die Gefahr bestehe, «dass man nur noch das Böse sieht und hinter jedem Menschen einen Verbrecher. Ich kann das abstrahieren. Meine Frau wäre sicher ungeeignet für diesen Beruf.»
Wenn sie im «Tages-Anzeiger» eine Gerichtsreportage lese, frage sie ihn: «Warst du da auch?» Wenn er nicke, frage sie nicht weiter.
Wie schützt man sich?
Dammann habe sich früh etwas zugelegt, um sich selbst zu schützen: den schweifenden Blick. Der stammt noch aus der Zeit, als er als Pressefotograf arbeitete und an Unglücksstellen kam.
Der schweifende Blick ist der, der alles sieht, ohne genau hinzugucken. Tote habe er erst fotografiert, wenn sie abgedeckt waren. Mittlerweile ist Dammann seit 43 Jahren Gerichtsreporter. Von Abstumpfung weiss er nichts.
Man darf sich nicht vorstellen, was die Opfer erleiden mussten.
Gibt es Fälle, die ihn verfolgen? «Ja, wenn Kinder gequält werden. Da kann ich die Anklageschrift nicht in einem Zug durchlesen.»
An den Fall des «Baby-Quälers» René Osterwalder erinnert sich auch die vielfach ausgezeichnete Journalistin Margrit Sprecher gut. Wenige Prozesse haben derart viel Aufsehen erregt: «Da waren zweihundert Journalisten akkreditiert. Das ist mehr als im Bundeshaus – zweihundert!»
Bei den Taten, die damals ans Tageslicht kamen, stockte der Schweiz der Atem. Dammann schützte sich auch hier, er versuchte es zumindest. «Man darf sich nicht vorstellen, was die Opfer erleiden mussten.»
Abgrundtief böse
Gibt es das Böse schlechthin? Viktor Dammann denkt dabei an einen Fall zurück: «Ein Liebespaar, welches das Arbeiten nicht erfunden hat, sucht für die Frau einen zahlungskräftigen Ehemann, damit die beiden nicht mehr arbeiten müssen. Den finden sie auch.» Die Frau heiratet den, der arbeitet. Aber er stört.
Fürs Wochenende wird er mit Schlaftabletten ausser Gefecht gesetzt. Die beiden machen, was sie wollen. Am Montag geht er wieder arbeiten. «Schlussendlich sagen sie: Der muss weg. Endgültig.»
Sie versuchen, ihn mit Aids-Blut zu infizieren. Vergebens. Die Frau wirft ihm einen Föhn in die Badewanne. Er überlebt. Schliesslich injizieren sie ihm das Gift des Knollenblätterpilzes. «Das war ein Novum», sagt Dammann. «Da kann ich wirklich sagen, das ist abgrundtief böse.»
Gründe fürs Aufhören
Die Journalistin Margrit Sprecher hat mit der regelmässigen Gerichtsberichterstattung längst aufgehört, sie schreibt nur noch über die grossen Fälle. Heute, in der Rückschau, sagt sie: «Es ist mir zu einfach geworden, nur im Gerichtssaal zu sitzen und wiederzukäuen, wer dort was wie gesagt hat.»
Da müsse man nichts recherchieren und könne sich nur schwer ein unabhängiges Bild machen. Vor allem, was den Täter oder die Täterin betrifft. Ihre Sprache sei «genau an dieser Stelle flach geworden.» Zu beliebig.
«Ich wollte ein Transmissionsriemen sein zwischen der Wahrheit der Richter und der des Angeklagten. Dazu muss ich den Angeklagten besser kennenlernen.»
Der weisse Fleck
Was sie im Gericht über den Angeklagten erfuhr, seien aber zu «kümmerliche Angaben» gewesen, die Befragungen der Gerichte zu schematisch, die Verhandlungssprache ein Juristendeutsch voller Fachausdrücke und entleerter Begriffe.
Weder ich noch die Angehörigen im Saal erfuhren, warum dieser junge Mann getötet hat.
Eine der Standardformulierungen laute: Der Täter sei «in ungünstigen Verhältnissen» aufgewachsen. Doch was, bitte, sind denn ungünstige Verhältnisse? Eine Antwort erfuhr sie im Verfahren praktisch nie.
Bei einem Gerichtsprozess in Luzern, bei dem die Ermordung von 14 Menschen durch einen Pfleger verhandelt wurde, habe der Richter dem Angeklagten genau zwei Fragen gestellt: die zur Person und die, ob er bis jetzt in der Haft gut behandelt worden sei. Das war’s. «Weder ich noch die Angehörigen im Saal erfuhren, warum dieser junge Mann getötet hat.»
Um zu persönlicheren Informationen zu kommen, habe sie die Angeklagten in Prozesspausen befragt. Das wurde ihr von einem Oberrichter verboten: «Er hat gesagt, er schmeisse mich raus, wenn ich damit weitermache.»
«Wie viele Dienstjahre sind es mittlerweile?» Margrit Sprecher überlegt kurz: «Mein Gott. Das werden 50 Jahre sein. Mindestens.»
Dramen des Alltags
In Erinnerung bleiben die spektakulären, grossen Fälle. «Die sind die absoluten Ausnahmen», sagt Brigitte Hürlimann. Das Gros seien «kleine Geschichten». Solche wie «zwei bekommen in der Waschküche Streit und es gibt was».
Wir sitzen stellvertretend für die Bevölkerung in die Gerichtssäle.
Ob gross, ob klein: «Gerichtsprozesse sind Dramen des Alltags, das Leben pur.» Man gerate mit Menschen für einen kurzen Moment in einen neuen und intensiven Kontakt, was ausserhalb des Gerichtsgebäudes fast nicht möglich sei. «Wenn man über Strafrecht berichtet, dann geht es fast immer um alles – zumindest um sehr viel – für mindestens eine Beteiligte.»
«Wir sind die Wachhunde»
Brigitte Hürlimann treibt noch etwas anderes an: «Wir sind die Public Watchdogs.» Das ist die Wortwahl des Bundesgerichts der Schweiz und des Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte.
Gerichtsberichterstatterinnen nähmen eine Brückenfunktion ein: «Wir sitzen stellvertretend für die Bevölkerung in die Gerichtssäle. Wir passen auf, wie unsere Gerichte das Recht anwenden, wie sie Recht sprechen, welche Urteile sie fällen und wie sie diese begründen. Wir beobachten die dritte Gewalt im Staat.» Das ist die politische Dimension.
Die gesellschaftliche Dimension
Eine ganz grundsätzliche Frage, die sich Brigitte Hürlimann und Margrit Sprecher stellen, ist die: Wie geht eine Gesellschaft mit Verbrechen um und was erzählt das?
Die eine Variante ist, Verbrechen und Täter als «das Böse» zu überhöhen. Damit grenzt man die Tat und den Täter aus der «Gesellschaft der Normalen» aus, sagt Sprecher: «Die Normalen müssen sich nicht auseinandersetzen» mit Taten, die die Grenze dessen, was man für menschenmöglich hält, weit überschritten haben.
Weg vom Schema «Gut und Böse»
Aber so einfach sollte man es sich nicht machen, ist Brigitte Hürlimanns Ansicht: «Wenn ich Menschen sehe, die Schlimmstes begangen haben, gibt es bei den meisten viele Grautöne.» Das mache es viel schwieriger, mit diesen Fällen umzugehen. «Ich habe mich längst gelöst von diesem Schema von Gut und Böse, Schwarz und Weiss.»
In die gleiche Kerbe schlägt auch Ferdinand von Schirach, Strafverteidiger und Bestsellerautor. Anlässlich einer Tagung in Berlin erzählte er Margrit Sprecher, dass aus seiner Erfahrung neun von zehn Tätern morgens zur Tür rausgehen und nicht die leiseste Ahnung haben, dass sie bis zum Abend einen Menschen getötet haben werden.
Denkt man Sprecher und Hürlimann und von Schirach weiter, bedeutet das: Das Böse auszugrenzen, indem man es überhöht und mystifiziert, ist nachvollziehbar, wiegt uns aber auch in einer falschen Sicherheit.
Unangenehmer ist die Annahme, dass das Böse banal und alltäglich ist. Damit ist nicht die Dimension der Tat gemeint, sondern die Tatsache, dass jede und jeder Täterin oder Täter werden kann. Jeden Tag.