Ob auf Netflix, in Podcasts oder Buchform: «True Crime» ist populär wie nie zuvor. Nacherzählte, reale Kriminalfälle lassen die Menschen erschaudern und faszinieren sie zugleich.
Eine Legende der Kriminalistik ist der «Mord von Kehrsatz», der auch als «True Crime»-Roman erschienen ist. Die zerstückelte Frauenleiche in der Tiefkühltruhe hat für Justizskandale gesorgt und ist bis heute trotz klarer Indizien zulasten von Bruno Z. ungeklärt. Und der Fall hat die Berner Bestsellerautorin Christine Brand «kriminalisiert», wie sie selbst sagt.
Bei Tötungsdelikten muss immer mein Telefon klingeln.
Solche «Cold Cases», also ungeklärte Delikte, lassen Christian Jackowski keine Ruhe. «Als Naturwissenschaftler kann ich mich nicht damit abfinden, wenn man für ein Problem keinen Lösungsweg findet», sagt der Direktor des Instituts für Rechtsmedizin der Universität Bern (IRM). Darum geht er selbst an die Front, um Leichen zu untersuchen.
«Bei Tötungsdelikten muss immer mein Telefon klingeln. Denn man weiss nie, in welche Richtung sich ein Fall entwickelt und wie stark er plötzlich im Fokus der Öffentlichkeit steht», sagte er im «MäntigApéro»-Talk von SRF Bern Freiburg Wallis. Dort sprach er mit Autorin Christine Brand und Gefängnisdirektorin Annette Keller über Verbrechen.
Trotz Schusswunde keine Ermittlung
Aber allzu oft klingelt das Handy von Jackowski nicht. Denn rund die Hälfte aller Tötungsdelikte in der Schweiz bleiben unentdeckt. Dies zeigte Jackowski zusammen mit anderen Kriminalistik-Experten in einem Fachartikel auf. Dabei stützte er sich auf Studien aus Deutschland. Ein Beispiel: Ein «Todespfleger» brachte in einem Heim in Luzern zwischen 1995 und 2001 mindestens 22 Menschen um, bis ihm die Polizei auf die Schliche kam.
Doch es gibt noch viel überraschendere Fälle: Im Kanton Bern seien drei Tötungsdelikte mit Schusswaffen begangen worden, welche die Ärzte vor Ort nicht als solche erkannten. Es gebe dafür ganz banale Gründe, so Jackowski: «Einer Person wurde in den Rücken geschossen. Weil sie aber auf dem Rücken lag, sah der Arzt die Schusswunde nicht und stellte den Totenschein aus. Ein Loch im Rücken sollte man aber auf jeden Fall erkennen.»
Der Bundesrat will nun untersuchen, ob die von den Forschern genannte Dunkelziffer Fiktion oder Realität ist und ob die Strafprozessordnung angepasst werden muss. Bis es so weit ist, hört Jackowski auch auf sein Bauchgefühl. Und hat damit schon die Staatsanwaltschaft überzeugt, trotz fehlender Hinweise auf Fremdeinwirkung Ermittlungen aufzunehmen.
Bestsellerautorin erhält Briefe von Verbrechern
«Krimikönigin» Christine Brand schreibt Krimis, die alle auf wahren Verbrechen basieren. Und lässt sich dabei von Kriminalistik-Spezialisten wie Jackowski beraten. «Ich habe kein Gspüri für Leichen, sondern für Menschen», sagt die frühere Gerichtsreporterin.
Ich habe kein Gspüri für Leichen, sondern für Menschen.
Inzwischen gebe es Kriminelle, die ihr schreiben und wünschten, dass sie ein Buch über ihr Verbrecher-Leben schreibe.
«Ich erfahre so viele Sachen, die ich eigentlich gar nicht wissen will», so die Bernerin. Sie selbst hat unzählige Gerichtsprozesse verfolgt, etwa jenen des Vierfachmordes von Rupperswil. Und verfasst aus solchen Fällen ihre Bestseller-Romane.
Aber warum fesseln «True Crime»-Bücher die Leserschaft dermassen? «Die Menschen fühlen sich stark betroffen von dieser Erzählweise. Sie triggert; die Leute wollen darüber sprechen», sagt Kulturwissenschaftlerin Christine Hämmerling. Die Beliebtheit des Genres stehe in engem Zusammenhang mit der verbreiteten Sehnsucht nach «Authentizität».