Einst eine sehr religiöse Bevölkerung, soll der Iran heute laut Umfragen das säkularisierteste Land im gesamten Nahen Osten sein, so die iranisch-deutsche Islamwissenschaftlerin Katajun Amirpur.
Das zeigt sich auch im fehlenden gesellschaftlichen Rückhalt der religiösen Führerelite. Die Gründe für diesen enormen Wandel liegen in der Geschichte des Landes und sind komplex.
Die Erfahrung der letzten 40 Jahre – also nach dem Ausbruch der Islamischen Revolution – habe die iranische Gesellschaft stark geprägt, «die Bevölkerung möchte nichts mehr mit dem jahrzehntelangen Islamismus zu tun haben», so Amirpur.
Hier spielt auch die bemerkenswerte Demografie des Landes eine Rolle: Rund 70 Prozent der Iranerinnen und Iraner sind nach der Revolution 1979 zur Welt gekommen. Entsprechend jung ist die Bevölkerung und entsprechend anders ihre Vorstellungen von Freiheit und Gewaltenteilung.
Stossende Doppelmoral
Durch die Revolution wurde ein hybrides politisches System etabliert, das einem theokratischen Regime entspricht. Dieses zeitigt inzwischen eine für alle augenscheinliche, strategisch gelebte und genau deswegen stossende Doppelmoral.
«Als ich bei meinen Verwandten im Iran zu Besuch war, sassen wir draussen auf der Veranda. Wir waren ohne Kopftuch und tranken Alkohol, beides natürlich verboten. Meiner vierjährigen Grosscousine wurde eingebläut, dies ja nicht in der Schule zu erzählen», erzählt Amirpur.
Aber nicht nur auf dieser Ebene findet sich Scheinheiligkeit. Auch die von der iranischen Regierung gesperrten Websites werden durch VPN-clients zugänglich gemacht, sodass der Zugriff darauf trotzdem allen möglich ist. «Jedes Enkelkind installiert seiner Oma einen VPN auf dem Computer und die Regierung weiss das», bilanziert Amirpur.
Junge Iranerinnen und Iraner wollen eine Demokratie
Was macht diese permanente Doppelmoral mit den Menschen? «Kinder werden, sobald sie reden können, zum Lügen erzogen. Wenn man es durchdenkt, ist es eine Schizophrenie, die schliesslich die ganze Gesellschaft ausmacht.» Natürlich gibt es auch Leute, die sich anders verhalten, aber die Tendenz ist deutlich.
Der jüngeren Generation gehe es also nicht mehr um einen Reformislam. Im Grunde wurde diese Frage inzwischen irrelevant: «Ob Islam und Demokratie vereinbar seien, interessiert die Leute nicht. Sie wollen die Demokratie.»
Frauen gegen das Regime
Es sind vor allem auch Frauen, die gegen dieses Regime aufbegehren, denn sie haben seit der Revolution am meisten verloren, so Amirpur. Die Rechte der Frauen wurden so stark eingeschränkt, dass Amirpur gar von einer «Gender-Apartheid» spricht.
«Es ist rechtlich so, dass ich als Frau den Iran theoretisch nur mit der Erlaubnis meines Mannes verlassen kann. Genauso, wenn ich Arbeiten gehen möchte», erklärt die Islamwissenschaftlerin.
Auch ist es für Frauen äusserst schwierig, sich scheiden zu lassen und das Sorgerecht für die Kinder kommt automatisch dem Manne zu.
«Auf der anderen Seite hat man aber eine Bevölkerung deren Studierende zu zwei Dritteln aus Frauen besteht. Zudem haben die Iranerinnen sich jede Männerdomäne des Nahen Ostens erobert: Sie fahren Taxi, sind Rennfahrerinnen oder fliegen auf den Mond.» Auch aus dem möglichst legeren Tragen des Kopftuches machen sich die Frauen einen Sport.
Eine Frage der Zeit
Damit gibt es im Grunde keine Korrelation zwischen dem rechtlichen und dem gesellschaftlichen Bereich. «Es ist nur eine Frage der Zeit bis Frauen, die so gebildet sind und bereits jetzt so viele Bereiche in der Gesellschaft einnehmen, sich auch auf rechtlicher Ebene ihre Rechte erkämpfen.»
In diese junge, sehr lebendige Zivilgesellschaft setzt Amirpur ihre Hoffnung. Aber diese Hoffnung schwinde schnell wieder, wenn man die iranische Bevölkerung kaputt sanktioniere, so Amirpur.
Sendung: SRF 1, Sternstunde Philosophie, 23.2.2020, 11.00 Uhr