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Gesellschaft & Religion «Oh Zeiten, oh Sitten»: Überlegungen zur Bedeutung der Zeit

Spätestens seit Asterix ist das Cicero-Zitat «O Tempora, O Mores» Allgemeingut. In seiner ersten Rede gegen den Verschwörer Catilina prägte der römische Philosoph diese polemische Klageformel, die zeigt: Über die Zeit wird seit Urzeiten nachgedacht. Ein kleiner Streifzug durch die Jahrhunderte.

Ohne Zeit wäre die Welt undenkbar. Diese Erkenntnis reflektierten bereits die uralten Literaturen, etwa das Buch «Genesis», das mit zu den Gründungsmythen der westlichen Zivilisation gehört. «Am Anfang schuf Gott den Himmel und die Erde», steht da, und der Schöpfungsprozess habe sechs Tage gedauert: «Am siebten Tage sollst du ruhen.» Damit war immerhin ein Ruhetag vorgesehen. Die Zeit wurde also schon damals als unabdingbarer Bestandteil der Welt und des menschlichen Lebens wahrgenommen. Und das Jahrhunderte vor den exakten Wissenschaften.

Kulturpessimistische Antike

Programmhinweis

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SRF 2 Kultur widmet sich am 2. April den ganzen Tag nur einem Thema: der Zeit. Was ist Zeit? Diese Frage stellen wir Fachleuten aus Physik, Soziologie, Psychologie und Philosophie. Ihre Antworten hören Sie am Dienstag ab 9 Uhr im HörPunkt «Die Zeit. Das Mass aller Dinge» auf SRF 2 Kultur.

Der griechische Geschichtsschreiber Hesiod, der vor dem Jahr 700 v. Chr. in Mittelgriechenland lebte, und in seiner Tradition der römische Dichter Ovid (43 v. Chr. – ca. 17 n. Chr.) teilten die Welt in vier Zeitalter ein: das goldene, das silberne, das eherne und das eiserne. Die Zeiten wurden immer schlechter.

In seinen «Metamorphosen» schreibt Ovid über dieses  letzte Zeitalter, das «aus hartem Eisen» sei: «Protinus inrupit venae peioris in aevum, omne nefas fugere pudor verumque fidesque, in quorum subiere locum fraudesque dolusque, insidiaeque et vis et amor sceleratus habendi.»

«Plötzlich brachen in diese Zeit, die von schlechterer Art ist, alle Greuel ein: Scham, Treue und Wahrheit entflohen, an ihre Stelle traten Betrug und Falschheit, Hinterlist und Gewalt und die verbrecherische Habgier.»

Optimistischeres Christentum

Mit dem Wechsel der Epochen ist also von alters her ein tiefer Pessimismus verbunden. In anderer Form findet sich dieser auch im Christentum wieder, zumindest solange man, wie heute üblich, die diesseitige Welt im Vordergrund sieht: In der christlichen Spätantike und im Mittelalter spielten Zeitalter-Lehren ebenfalls eine wichtige Rolle, etwa bei Augustinus (354-430) und bei Isidor von Sevilla (560-636). Isidor schrieb, es gebe ab der Geburt Adams sechs Weltzeitalter von je tausend Jahren Dauer – analog zu den sechs Schöpfungstagen. Das letzte Zeitalter, in dem wir lebten, werde mit dem Jüngsten Gericht enden, uns Menschen drohe der physische Untergang. Aus christlicher Sicht ist das nicht gar so schlimm, denn uns steht – bei gutem Lebenswandel – das ewige Leben bevor.

Tag und Nacht, Sommer und Winter

Für die Mehrheit der Bevölkerung, die Bauern, waren solche Theorien über Jahrhunderte von wenig Belang. Für sie war die Zeit in anderer Hinsicht und Stückelung wichtig: Der Wechsel von Tag und Nacht, von warmer und kalter Jahreszeit bestimmte ihr Leben. Das ewige Leben war für irgendwann, im Alltag dürfte es niemanden wirklich gekümmert haben, ob wirklich das letzte Zeitalter am Vergehen war und ob es nun Punkt 8 oder 8.10 Uhr war. Der Lauf der Zeiten verlangte handfestere Anstrengungen: Das Heu musste ins Trockene, das Korn im richtigen Moment vom Feld, das Vieh gemolken werden.

Faktor Kirchturmuhr

Zwei Kirchturmuhren in Zürich: Turm des Fraumünsters und von St. Peter
Legende: Das Fraumünster und Sankt Peter zu Zürich geben die Zeit an. Keystone / Alessandro Della Bella

Mit der Erfindung und Verbreitung von mechanischen Uhren, die in Kirchtürme eingebaut wurden, änderte sich der Zeitbegriff radikal. Im 14. Jahrhundert, ausgehend von Italien, wurde die Zeit allmählich zu einer klar bestimmten Grösse. Das Zifferblatt am Turm und die Glocke machten sie weithin sicht- und hörbar. Die Kirche konnte nun mit lautem Geläut die Gemeinde zum Gebet einberufen. Feuersbrünste und feindliche Überfälle konnten so signalisiert, Alarm konnte gegeben werden.

Der Kirchturm mit seinem  Zifferblatt und seiner Glocke war gewissermassen der lange Arm der geistlichen und zivilen Obrigkeit. Ein Symbol, aber auch ein Machtinstrument. Diese leichte akustische und optische Verbreitung der genauen Zeitangabe war eine Grundvoraussetzung für die Industrialisierung.

Industriegetöse

In der Frühphase der Industrialisierung hingen oft alle Maschinen einer Fabrik über Treibriemen an einer einzigen Kraftquelle, sagt der Zürcher Historiker und Journalist Stefan Keller, der für sein Buch «Die Zeit der Fabriken» auch die Rolle der Zeit untersucht hat. Für die betrieblichen Abläufe sei es deshalb unerlässlich gewesen, dass die Arbeiterinnen und Arbeiter pünktlich an ihren Maschinen standen und arbeiteten. Diese Einführung der exakten Zeit ins Leben der Menschen lief nicht ohne Widerstand ab.

«1837 kam es in Glarus zum allerersten überhaupt bekannten Streik in der Schweizer Geschichte», sagt Stefan Keller, «weil sich die Tuchdrucker der Firma Egidius Trümpy gegen die Einführung der Fabrikglocke wehrten. Sie sahen nicht ein, warum der Fabrikherr bestimmen wollte, wann sie mit der Arbeit anfingen und aufhörten. Dieser Streik wurde verloren.»

Mit Stoppuhr zur Stechuhr

Vor der braunen Fassade des Opel-Werks in Bochum zeigt eine Uhr fünf vor zwölf.
Legende: Ohne Zeitmessung keine Industrie: Das Opel-Werk in Bochum. Reuters

Im späteren 19. und frühen 20. Jahrhundert entwickelten Unternehmensberater wie der US-Amerikaner Frederick Winslow Taylor (1856-1915) und der in die USA ausgewanderte Franzose Charles Eugène Bedaux (1886-1944) ihre Arbeitsorganisationssysteme, den Taylorismus und das Bedaux-System. Das Ziel war es, die menschliche Arbeitskraft optimal für die Produktion zu nutzen. Mit Stoppuhren wurde die Dauer jeder einzelnen Bewegung des Arbeiters oder der Arbeiterin gemessen, und aus der benötigten Zeit wurden Arbeitsnormen errechnet, Mengenvorgaben, die alle Mitarbeitenden zu erreichen hatten. «Andernfalls wurden sie unter Namensnennung in der Fabrikhalle öffentlich angeprangert», so Keller. Und der Lohn wurde ihnen gekürzt.

Buchhinweise

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Karen Gloy: «Philosophiegeschichte der Zeit». Wilhelm Fink, 2008.

Hartmut Rosa: «Beschleunigung». Suhrkamp, 2005.

Walther Ch. Zimmerli und Mike Sandbothe (Hg.): «Klassiker der modernen Zeitphilosophie». Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2007.

Keller berichtet, ihm hätten noch in den 1990er Jahren Arbeiter davon erzählt, dass sie vom Bedaux-System träumten. Alpträume, sechzig Jahre danach. Das Bedaux-System verursachte klassische Stress-Symptome: Schlaflosigkeit, Konzentrationsstörungen, Dauermüdigkeit, Nervosität, Krankheit. Stefan Keller berichtet auch von Selbstmorden aufgrund des Arbeitsdrucks.

Neue Gesetze zur Arbeitszeit

Das schweizerische Fabrikgesetz von 1877 beschränkte die Höchstarbeitszeit auf täglich 11 Stunden und verbot die Sonntagsarbeit. Eine volle Stelle entsprach wöchentlich 66 Arbeitsstunden. In der heutigen Dienstleistungsgesellschaft bedeutet ein 100 Prozent-Pensum in der Schweiz durchschnittlich 41 Stunden und 28 Minuten Arbeit. Die Zahl der Ferientage, einst völlig unbekannt, ist deutlich gestiegen. So weit, so gut.

«Arbeitsverdichtung»

Heute hört man immer lauter das Wort «Arbeitsverdichtung»: In gleich vielen Stunden sind mehr Arbeitsschritte zu erledigen, in ein Arbeitspensum wird mehr Arbeit gestopft. Der Stress nimmt zu, die Zeit und die Sorgfalt, die auf einzelne Arbeitsschritte verwendet werden können, schwinden. Von der «Entfremdung» des Menschen, der in der ganzen Produktionskette nur noch kleine und kleinste, spezialisierte Schritte auszuführen hat, schrieb einst Karl Marx.

Frankfurter Skyline, erleuchtete Wolkenkratzer.
Legende: Zeitlich eng getaktet: Arbeiten in der Dienstleistungsgesellschaft – hier die Skyline von Frankfurt. Keystone

In Stunden gemessen, arbeiten wir heute viel  weniger als unsere Grosseltern. Das Arbeitstempo ist jedoch deutlich gestiegen. Die Gleichzeitigkeit der Arbeitsschritte, die im elektronischen Arbeitsumfeld parallel anfallen, ist ermüdend. Eine Weile können die Angestellten von ihrer Erfahrung zehren, irgendwann werden sie von der Geschwindigkeit und Multifunktionalität aufgezehrt. Letztlich wird die Qualität der Produkte und Dienstleistungen leiden.

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