«Als ich um zehn Uhr auf die Uhr schaute, war es erst halb neun.» Notiert hat diesen Kommentar der berüchtigte Kritiker Alfred Kerr beim Besuch einer Theaterpremiere. Kerr, 1867 in Breslau geboren, braucht ein schlichtes Bild, dasjenige der Uhr, um auszudrücken, wie sehr er sich langweilt.
Kerr zeigt mit diesem Bild auf, wie unterschiedlich wir Zeit erleben. Er nimmt die Zeit zerdehnt wahr, sein subjektives Zeitgefühl steht in krassem Widerspruch zur objektiv gemessenen Zeit. Die Uhr, welche Zeit misst, wird als Instrument in Frage gestellt. Alfred Kerr unterwandert ihre Autorität als objektive Instanz, indem er seinem eigenen Erleben den gleichen gewichtigen Platz einräumt wie der Technik.
Was ist Zeit?
Seit Jahrtausenden versuchen die Menschen, die Zeit zu definieren. Sie suchen Antworten auf die Frage, was Zeit eigentlich ist. Die Physik definiert die Zeit als eine fundamentale Grösse. Mit ihr lassen sich Geschwindigkeit, Reihenfolge und Dauer von Ereignissen festhalten, immer in Zusammenhang mit dem Raum, einer weiteren physikalischen Grösse.
Um die Zeit messen zu können, hat man eine Einheit definiert: die Sekunde. Davon ausgehend können wir unsere Zeit in weitere Einheiten einteilen, in Minuten, Stunden, aber auch Tage, Wochen, Jahre oder Jahrtausende.
Gewisse Forscher glauben, dass aufgrund der Relativitätstheorie, die sich mit der Struktur von Raum und Zeit auseinandersetzt, sich ein Anfangspunkt der Zeit festlegen lässt: der Urknall. Nicht nur die Materie sei dann entstanden, so die Überzeugung, sondern auch der Raum und eben die Zeit. Vor dem Urknall existiert nach diesem Denkmodell keine Zeit.
Zeitmessung ist nicht gleich Zeit
Doch auch wenn wir wissen, dass eine Stunde aus exakt 60 Minuten besteht, machen wir wie Theaterkritiker Alfred Kerr mit unserer Zeit im Alltag andere Erfahrungen. Stellen wir uns doch einmal vor, wir sitzen mit Kerr in der eingangs beschriebenen Theaterpremiere. Anders als Kerr schauen wir gebannt auf die Bühne, was wir sehen, trägt uns fort, emotional sind wir sind im Sog der Geschichte gefangen. Uns bleibt keine Sekunde Zeit, um auf die Uhr zu schauen. Wir spenden am Schluss der Vorstellung kräftigen Applaus und erzählen anschliessend ein paar Freunden, dass die Premiere «wie im Flug» vergangen sei.
Emotionen beeinflussen Zeitgefühl
Warum hat der Kritiker gelangweilt dem Ende des Dargebotenen entgegen gelitten, während ein paar andere Zuschauer die Zeit komplett vergessen haben? Die Antwort ist einfach: Die Emotionalität beeinflusst unser Zeitgefühl. Das beschreibt der Psychologe und Zeitforscher Marc Wittmann in seinem Buch «Gefühlte Zeit. Kleine Psychologie des Zeitempfindens».
Zeit ist im psychologischen Sinn kein Phänomen, das sich von aussen messen lässt. Der einzig verlässliche Bezugspunkt bei der gefühlten Zeit sind ausschliesslich wir selbst.
Zeit dingfest machen
Apropos Zeit, die wie im Flug vergeht: Unsere Sprache ist voller Bilder, die unser Zeitempfinden in Worte kleiden wollen. Man kann der Zeit hinterher rennen, sie kann einen einholen, man kann sie jemandem stehlen, sie sich auch einfach nehmen, man kann Zeit verlieren, sie schinden, gewinnen, verschwenden und sogar jemandem schenken.
Die Zeit kann reif sein, drängen, sich wandeln, man kann mit ihr Schritt halten, sie anhalten oder sogar zurückdrehen wollen. Alle diese Sprachbilder sind blumige Versuche, die Zeit dingfest zu machen. Aber alle Versuche fruchten nichts: Die Zeit hat keinen Körper und giesst sich in jede Form. Für uns ist sie nicht fassbar. Die Zeit bleibt somit ein Rätsel.