Kein anderer Bauunfall forderte in der Schweiz im 20. Jahrhundert einen derart hohen Blutzoll wie die Mattmark-Katastrophe. «Es sah aus wie im Krieg», erinnerte sich Marie Bumann aus Saas-Fee Jahre später im Interview mit Radio SRF. Sie hatte die Katstrophe beobachtet.
Der Abbruch des Gletschers
Es war abends, kurz nach 17 Uhr, an jenem verhängnisvollen 30. August 1965. Die Arbeiten am Mattmark-Staudamm im hinteren Saastal im Kanton Wallis waren in vollem Gang. Plötzlich brach über der Baustelle ein gewaltiges Stück Eis des Allalingletschers ab.
Millionen von Tonnen Material donnerten in die Tiefe – direkt auf das Barackendorf zu, in dem Schlafplätze für Arbeiter, Werkstätten, Magazine und Büroräumlichkeiten untergebracht waren. Der Damm selbst lag ausserhalb der Falllinie.
86 Männer und zwei Frauen hatten keine Chance. Die heranbrausende Naturgewalt begrub sie unter einer dicken Schicht Eis, Schutt und Geröll. «Wie Zündholschachteln» seien die Baracken in Stücke gerissen geworden, erinnerte sich später der Walliser Bergführer Georg Bumann, der das Unglück zusammen mit seiner Frau beobachtet hatte.
«Kleines Herrenvolk» und italienische Opfer
Die meisten Toten waren Italiener, die damals auf der Suche nach Arbeit und Verdienst in die Schweiz gekommen waren. Es war die Zeit der Hochkonjunktur, und das Land war auf Hunderttausende ausländische Arbeitskräfte angewiesen.
Die Katastrophe traf ausgerechnet die italienischen Arbeiter, gegen die sich die aufkeimende Fremdenfeindlichkeit ganz besonders richtete. Der Schriftsteller Max Frisch brachte die Ambivalenz, mit der die Bevölkerung in der Schweiz den Migranten aus dem Süden begegnete, damals auf den Punkt: «Ein kleines Herrenvolk sieht sich in Gefahr: Man hat Arbeitskräfte gerufen, und es kommen Menschen.»
Wer trägt die Schuld?
Im Nachgang zur Katastrophe beschäftigte vor allem eine Frage: Wäre der Gletscherabbruch vorhersehbar gewesen? Ein sich über Jahre hinziehendes, gerichtliches Verfahren entlastete schliesslich die Bauleitung: Nein, niemand habe mit einem Abbruch des Gletschers rechnen können.
Das Urteil führte auf der Seite der Opfer und ihrer Angehöriger zu grosser Empörung. Das Bild einer kaltherzigen Schweiz ging um die Welt.
Warnende Stimmen
Eine neue Studie, die unter der Leitung des Genfer Soziologen Sandro Cattacin entstanden ist, zeichnet ein differenzierteres Bild der Verantwortlichkeiten. Tatsächlich wäre die Katastrophe vorhersehbar gewesen, heisst es in dieser ersten wissenschaftlichen Aufarbeitung der Katastrophe. Es habe nämlich nicht an Stimmen gemangelt, die auf die Gefahren hinwiesen.
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Allerdings seien diese Warnungen kaum zur Kenntnis genommen worden. Im damaligen Klima der Technikgläubigkeit habe man die baldige Fertigstellung des Staudamms als wichtiger erachtet, als der Sicherheit der Arbeitskräfte die nötige Beachtung zu schenken.
Erinnerung und Enttäuschung bleiben
Der grösste Teil der italienischen Opfer stammte aus dem Veneto, genauer aus der Kleinstadt Belluno, die am Fuss der Dolomiten liegt. Dort gibt es noch heute eine Vereinigung, die sich um die Opfer kümmert.
Jedes Jahr fahren die Angehörigen nach Mattmark, um der Toten zu gedenken. Die Erinnerung an die Katastrophe ist noch wach – und auch die Enttäuschung über die damalige Behandlung durch die Schweiz.