Jeder weiss inzwischen, was ein Selfie ist: Ein mit einem tragbaren elektronischen Medium wie einem Smartphone oder Tablet-Computer aufgenommenes fotografisches Selbstporträt. Meist angefertigt mit der Intention der Veröffentlichung auf sozialen Netzwerken.
Selfies sind aber nicht nur ein popkulturelles Phänomen nach der digitalen Revolution, sie sind auch ein famoses Beispiel dafür, wie sich die heutige Philosophie als Zeitgeistforschung versteht, gierig nach den Phänomenen seiner Äusserung. Denn jeder, auch jeder über 45 in den hinteren Winkeln des akademischen Gebäudes, weiss inzwischen, was ein Selfie ist – weil sich die Philosophen darauf stürzen.
Ein «Akt piktoraler Autoerotik»
Dabei kommt es, wie immer, wenn sich Leute auf irgendwas stürzen, natürlich auch zu Unfällen. So jüngst bei Konrad Liessmann, Professor für Philosophie und Ethik an der Universität Wien. Ein geistreicher Mann, der sich kürzlich in einer philosophischen Zeitschrift dem Selfie widmete, anhand der Frage: Was bedeutet diese demonstrative fotografische Selbstthematisierung des spätmodernen Subjekts?
Das Selfie, so Liessmann, sei mehr als ein «Akt piktoraler Autoerotik». Und hier folgte sein Lapsus. «Im Gegensatz zu den digital bearbeiteten und geschönten Fotos, die der Werbung und Repräsentation dienen und das Ich umschmeicheln, lebt das Selfie auch von der Unzulänglichkeit des Augenblicks», schreibt Liessmann. «Man zeigt sich, wie man ist, und demonstriert damit, dass man sich vielleicht doch nicht so ernst nimmt. Die Armlänge wird zum Massstab der ironischen Selbstdistanzierung.»
Schnell und einfach, aber perfekt
Herr Liessmann, der selbst stets dasselbe etwas unglückliche Autorenporträt benutzt, reduziert die soziologische, psychologische und popkulturelle Komplexität des Selfie auf den spontanen Schnappschuss und leitet daraus seinen Schluss ab: ironische Selbstdistanzierung (wenn auch nur auf Armeslänge). Damit aber verfehlt er den Kern der Sache.
Selfies sind ja regelmässig nur vorgeblich spontan: Sie werden vor ausgewählten Kulissen aufgenommen, in ausgewählter Bekleidung und Begleitung, mit attraktiven Requisiten und einem schmeichelnden Filter. Sie werden nachträglich mit den gängigen Apps digital aufgetakelt. Das geht schnell und einfach.
Kein Fehl darf zu sehen sein. Man zeigt sich keinesfalls so, wie man ist, sondern wie man zu sein wünscht, also wahrgenommen werden will. Das Selfie lebt durchaus nicht von der Unzulänglichkeit des Augenblicks, sondern der Augenblick soll durch das Selfie perfekt gemacht werden.
Selbstvergessenheit ist nicht mehr möglich
Falls wahre Attraktivität also in der Selbstvergessenheit liegt, wie es einst Heinrich von Kleist postulierte, dann sind Selfies tragisch. Denn Selbstvergessenheit ist ja nicht möglich, wenn man selbst den Auslöser bedient. Darinnen liegt in der Tat eine gewisse Ironie. Und auch: Entfremdung.
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Wenn man den reichlich strapazierten Begriff der «Entfremdung» als eine Art gestörte Welt- und Selbstaneignung auffasst, wie etwa die Philosophin Rahel Jaeggi, leisten Selfies einen ganz unmittelbaren Beitrag zu einem Phänomen, das man «digitale Entfremdung» nennen könnte: Die Menschen können mit der von ihnen selbst veranstalteten Inszenierung ihrer selbst nicht mehr mithalten.