«Lieber die als ich», dachte ich damals, als ich als Teenie «Teen Mom» schaute. Behütet sass ich auf dem Sofa und bingte die MTV-Show mit den verzweifelten Ami-Moms: Früh ungewollt Mutter geworden struggelten sie sich durch den Stress, den andere Familienglück nennen.
Ich fand’s krass und – das begriff ich schon mit Zahnspange – irgendwie beschämend, so einen «shit» zu schauen.
Heute, mehr als 20 Jahre später, bin ich selbst Mutter und «Teen Mom» ist TV-Geschichte. Reality-TV ist jedoch geblieben – und für Millionen Menschen und mich Teil der sogenannten «Me-Time».
An Angebot mangelt es nicht. Ein Micro-Ausschnitt des Reality-Überangebots: Das «Dschungelcamp» wird 20, «Germany’s Next Topmodel» geht gerade in die 19. Staffel und die Kuppel-Show «Love is Blind» gehört zu den meistgesehenen Netflix-Serien überhaupt.
Bei Big Brother gab es diese Schlüssellochmomente, die man vorher nicht kannte.
Alte Formate bleiben, neue kommen dazu. Auffallend dabei: Einige zeigen sich etwas braver. Doch blicken wir zuerst zurück.
Bravouröser Start mit Big Brother
Er schaut privat gerne Thriller: Rainer Laux produzierte bereits die erste «Big Brother»-Staffel für RTL 2. Das neue Format, das ursprünglich aus Holland kam, begeisterte ihn. Was dieses «neue Fernsehen» auslösen würde, ahnte er damals nicht.
Das Konzept war simpel, aber so noch nie gesehen: Zehn Menschen in einem Container – 24/7 gefilmt von Kameras. Was aus heutiger Sicht mit Blick auf Hochglanzproduktionen roh und popelig wirkt, war damals revolutionär.
«Es gab diese Schlüssellochmomente, die man vorher nicht kannte. Menschen beim Rasieren zuschauen? Das war früher privat.» Und es kam noch schärfer: Sex, Streit – und stundenlang Seelenstriptease.
Gefiel eine Bewohnerin, durfte sie im Container bleiben. Eckte ein Kandidat an, musste er ausziehen – abgewählt vom Publikum. Was geht? Wer geht? «Big Brother» wurde schnell zum TV-Ereignis.
Manche Fans waren derart aus dem Häuschen, dass es sie sogar zum Container zog: «Standen beim ersten Auszug drei Fans vor dem Container, waren es beim vierten Auszug schon 15’000», erinnert sich Laux. «Big Brother» wurde zum Mega-Phänomen. Auch hierzulande. Unterhaltsam fand man’s – aber auch unter dem Niveau.
Verblödung droht
Die Vorwürfe, unter vielen: Voyeurismus, Vorzeigen von Menschen, aber auch Verblödung. Christine Lötscher, Professorin für Populäre Literaturen und Medien an der Universität Zürich, kennt diese Kritik sehr gut: «Jedes Mal in der Kulturgeschichte, wenn ein neues Genre auftaucht, fürchtet man, dass die Gesellschaft verblödet.»
Das sei schon im 18. Jahrhundert so gewesen. Damals, mit dem Aufkommen der Populär- und Unterhaltungsliteratur, habe das Bildungsbürgertum schon befürchtet, dass die Menschheit geistig leide.
«Das Verschlingen von Literatur und das Vergnügen dabei galt aus Sicht des Bildungsbürgertums als ungesund. Zu sinnlich, zu wenig intellektuell kontrolliert», so Lötscher.
Einfach mal abschalten
Diese Zeit sei auch die Geburtsstunde dessen, was wir heute «guilty pleasure» nennen. Was übersetzt so viel heisst wie: Spass haben – und sich dabei ein bisschen schuldig fühlen.
Von diesem Gefühl, so Lötscher, lebe auch Reality-TV. «Wir leben in einer widersprüchlichen Welt», erklärt sie. «Einerseits machen wir uns viel Gedanken über die Welt und wie sie besser werden könnte. Andererseits denken wir manchmal einfach: ‹Ach, ist doch egal!›»
Aus einer Gender-Perspektive geht ‹GNTM› gar nicht. Trotzdem habe ich Spass beim Schauen.
Lötscher selbst ist ein gutes Beispiel. Eine Professorin, die sich unter anderem mit Feminismus beschäftigt und sich gerne mal «Germany’s Next Topmodel» gönnt: «Aus einer Gender-Perspektive geht ‹GNTM› gar nicht. Trotzdem habe ich Spass beim Schauen. Wahrscheinlich, weil es so problematisch ist.»
Das ungute Gefühl
Seit Carmen Krämer Bürgermeisterin ist, hat sie kaum Zeit für «guilty pleasure», höchstens mal für «The Voice». Die Philosophin und Autorin der Dissertation «Menschenwürde und Reality TV: eine ethische Analyse», ist dieser Widerspruch bestens bekannt. In unterschiedlichen Bereichen: «Beispiel Umwelt: Wir kaufen die Avocado, obwohl wir wissen, dass sie von weit her eingeflogen ist.» Leichte Kost also – und trotzdem schwer verdaulich.
Auf die Frage, woher dieses mulmige Gefühl beim Schauen sonst käme, ergänzt Krämer aus ethischer Perspektive: «Es könnte sein, dass Menschen ihre grundlegenden ethischen Werte verletzt sehen.» Wenn sie sich von Beleidigungen, Demütigungen oder Streitereien unterhalten fühlten, würden sie sich schämen.
Mit Kant im Hinterkopf, so Krämer: Der Zuschauer oder die Zuschauerin sehe, wie er oder sie selbst nicht behandelt werden möchte.
Und: «Der Zuschauerin würde – je nachdem, wie reflektiert sie sei – ausserdem bewusst: ‹Wenn ich das schaue, führt das zu mehr Einschaltquoten und zu mehr Sendungen, die Menschen in unschönen Situationen zeigen.›»
Echte Menschen, echtes Leid
«Natürlich schadet es nicht, wenn sich zwei streiten», gibt Reality-TV-Produzent Rainer Laux zu. Er, der zuletzt Formate wie «Dating Naked Germany», «Promi Big Brother» oder «The 50» produzierte, weiss: Drama unterhält.
Unschöne Unterhaltung auf Kosten anderer? Laux wiegelt ab. Beim Konsum von Reality-TV handle es sich um ein empathisches Fernsehen: «Man kann mitfühlen, man kann mitleiden – vielleicht auch mit einem Menschen, den man nicht leiden kann.»
Trotzdem: Der Vorwurf, Reality-TV sei ein Spiel mit Menschen, bleibt. Natürlich greife man als Produzent ins Geschehen ein – beispielsweise im Schnitt oder auch im Off-Kommentar – das seien gängige Stilmittel.
Aber: «Wenn man sich als Mensch im Reality-TV so gibt, wie man wirklich ist, kann einem nichts passieren.» Einfach echt sein, ist es so simpel?
Philosophin Krämer würde Laux wohl widersprechen: «Menschen, die einen falschen Blick auf sich haben, können Opfer solcher Sendungen sein. Jemand denkt, er sei ein super Sänger – und der Produzent führt nur im Schilde, den Kandidaten blosszustellen. Das kann für den Kandidaten blamabel sein – und schlimme Folgen haben.»
Alles für die Quote?
Fakt ist: Die Liste an Reality-TV-Kandidaten, die Produktionsbedingungen von Reality-Shows kritisieren, ist lang. Kein ganz unbekanntes, aber bezeichnendes Beispiel: «Germany’s Next Topmodel».
«Ich bin damit nicht klargekommen: mental, körperlich, sozial auch nicht», beschreibt es etwa Simone Kowalski, Gewinnerin von «GNTM 2019», in einer Doku von «STRG_F Epic» (NDR/funk). Darin berichten ehemalige Kandidatinnen von üblen Umständen am Set.
Von Abschottung zur Aussenwelt, ausufernden Drehtagen und gezieltem Erzeugen von Konflikten zwischen Kandidatinnen ist die Rede.
Bei Kandidatin Kowalksi hatte dies schwere Konsequenzen: Sie hatte Suizidgedanken.
«Wir waren immer die Loser»
Kritisch, ja gar kämpferisch zeigen sich auch Reality-Stars in den USA. Ein Gesicht dieses Kampfes ist Unternehmerin Bethenny Frenkel.
Frenkel, Ex-Teilnehmerin von «Real Housewives of Hollywood» – einer Show, in der Hobby-Hausfrauen zeigen, wie Leben auch luxuriös geht – forderte 2023 in einem Instagram-Post: «Hollywood streikt. Warum streikt Reality-TV nicht?»
Im Post, den sie während des Streiks der Drehbuchautoren in Hollywood teilte, ruft sie Reality-TV-Stars auf, sich gemeinsam zu wehren. Eine von vielen Forderungen: mehr Lohn und Tantiemen. «Wir waren immer die Loser», betont sie. «Reality-TV-Stars sollten eine Gewerkschaft gründen und fair behandelt werden.»
Ein ähnlicher Fall: Jeremy Hartwell, der bei US-amerikanischen «Love is Blind» die Liebe suchte. Er gründete ein Netzwerk für Reality-TV-Stars mit dem Ziel, Teilnehmer rechtlich und mental zu unterstützen.
Er selbst hatte 2023 gegen Netflix und die Produzenten der Dating-Show geklagt. Seine Vorwürfe: Isolation, Schlafmangel, schlechte Vergütung, wenig Essen und kein Wasser. Dafür Alkohol à gogo.
Saufen am Set – bald Geschichte?
Stünde es um das Wohl der Reality-TV-Kandidaten nicht besser, gäben sie sich am Schirm weniger die Kante? Seit es Reality-TV gibt, wird gebechert – das weiss man nicht erst seit Hartwell. Doch die Kritik wird nun auch in gewissen Shows umgesetzt.
Mehr alkoholfreien Nosecco statt Prosecco gibt’s jetzt beispielsweise im britischen «Love Island»: Nur noch zwei Gläser Alkohol pro Tag sind erlaubt. Der (Fast-)Verzicht auf Alkohol brachte den Machern jedoch eine nüchterne Bilanz: Hatte die Show bei der ersten Episode 2019 3.3 Millionen Zuschauer, waren es 2022 2.4 Millionen und 2023 nur noch 1.3 Millionen.
Weniger Alkohol, tiefere Einschaltquoten – dafür ein besseres Gewissen? «Es wäre dumm zu glauben, dass Reality-TV-Produzenten plötzlich Altruisten wären», schreibt eine Journalistin des Guardian.
Philosophin Carmen Krämer kann die eine Motivation der Produzenten nicht kennen, räumt aber ein: «Vielleicht reagiert man auf Kritik – oder eben auch auf gesellschaftliche Entwicklungen.»
Heisst: Ist Alkohol in der Gesellschaft out, kommt er auch in Reality-TV-Formaten weniger vor. Das allmähliche Aus für den Alkohol – nur eine von vielen echten Trends, die sich im Reality-Genre widerspiegeln.
Alle woke, oder was?
Kulturwissenschaftlerin Christine Lötscher ergänzt: «Eine Definition von Reality-TV besagt, dass Realität-TV geskriptete Realität ist. Die Vorstellung dieser Realität ist auch immer mit Idealen und Wünschen verbunden.»
Diversität, Toleranz, Political Correctness – alles Werte und Anliegen, die eben auch in Reality-TV-Formate einfliessen.
Ein Vorzeige-Format für Lötscher: «Princess Charming». In der ersten Dating-Show der Welt, in der Frau Frau sucht, merke man, so Lötscher, «dass da wirklich ein queeres Bewusstsein dahintersteht».
Die brave Reality-Show?
Reality-TV Produzent Rainer Laux zeigt sich als Realist: «Formate, die nicht mehr mit der Zeit gehen und hängen bleiben, will keiner mehr schauen. Dann werden sie auch nicht produziert.»
Diversität, betont er, sei ihm zwar auf persönlicher und professioneller Ebene sehr wichtig, aber grundsätzlich müsse eine Person ins Konzept einer geplanten Show passen.
Ob er denn Lust hätte, ein ethisch einwandfreies Format zu produzieren? «Was heisst genau ethisch einwandfrei?», fragt Laux zu Recht. «Aber Krawall», so der TV-Produzent, «braucht es nicht, damit ein Format erfolgreich ist».
Die Philosophin Christine Krämer würde sich gerne mit ihm über ein mögliches Format unterhalten. Ob ich es dann gerne schauen würde? Wahrscheinlich. Mit besserem Gewissen als bei «Teen Mom». Aber dann doch gerne mit Pro- statt Nosecco in der Hand.