Das erste Mal Ritalin genommen, um ihre Leistung zu steigern, habe sie auf dem Gymnasium, erzählt Patricia. Bezogen habe sie es von einem Bekannten, der das Medikament verschrieben bekommen hatte.
«Ritalin hat mir so geholfen, dass ich medizinische Abklärungen gemacht habe. Dabei kam heraus, dass ich selbst ADHS habe», sagt sie. Deshalb bekam sie Ritalin verschrieben. Über zehn Jahre hat sie die Substanz konsumiert.
«Es war wie ein Sog»
Durch das Ritalin sei sie sehr fokussiert gewesen. Sie habe einen «Tunnelblick» bekommen und konzentriert lernen können. Dadurch habe sie Erfolg gehabt. Allerdings sei sie nicht nur zielstrebig, sondern auch gefühlskalt geworden: «Man will produktiv sein, arbeiten, Dinge immer noch besser machen.» Wie ein Sog sei das gewesen.
Mit der Zeit habe sie die Dosis schleichend erhöht. Der Übergang zum Missbrauch war fliessend. Über Jahre hinweg überschritt ihr Tageskonsum die tägliche Höchstdosis um ein Mehrfaches. «Eine Art Doping», sagt sie.
Ein Einzelfall? Mitnichten. Das zeigt eine Studie zum Thema Doping am Arbeitsplatz und im Bildungsbereich. Durchgeführt haben sie Larissa Maier und Michael Schaub vom Schweizer Institut für Sucht- und Gesundheitsforschung (ISGF) der Universität Zürich.
An der repräsentativen Online-Umfrage nahmen etwas mehr als 10'000 erwerbstätige oder sich in Ausbildung befindliche Personen im Alter von 15 bis 74 Jahren mit Wohnsitz in der Schweiz teil. Mehr als ein Drittel (36,1 Prozent) gibt an, sich in den letzten zwölf Monaten häufig oder sehr häufig gestresst gefühlt zu haben.
Stimmungsheber in Pillenform
Mindestens vier Prozent der Befragten haben schon einmal verschreibungspflichtige Medikamente oder Drogen eingenommen, um ihre Gehirnleistung zu steigern oder ihre Stimmung aufzuhellen, ohne dass eine medizinische Indikation dafür vorlag. Dabei war die Stimmungsaufhellung der häufigere Grund für eine Einnahme.
Etwas mehr als ein Viertel derjenigen, die sich dopten, griffen dafür zu Schlaf- und Beruhigungsmitteln. Ein Fünftel nahm Antidepressiva. 14 Prozent konsumierten ein ADHS-Medikament. Etwa 40 Prozent benutzten andere verschreibungspflichtige Arzneimittel oder Drogen.
Anders sieht es bei Schweizer Studentinnen und Studenten aus. 2013 wollten Maier und Schaub wissen, wie viele von ihnen schon einmal Ritalin oder andere Substanzen konsumierten, um Neuro-Enhancement zu betreiben, also Gehirndoping. Das Ergebnis ihrer Untersuchung: Etwa jeder siebte befragte Studierende hatte schon einmal Substanzen eingesetzt, um die geistige Leistungsfähigkeit zu steigern oder die Stimmung zu beeinflussen.
Normalerweise wird Ritalin bei einer ADHS-Diagnose verschrieben. Oft werde es aber auch ohne Diagnose zur Leistungssteigerung eingesetzt, sagt der Neurowissenschaftler Hennric Jokeit. Er ist Forschungsgruppenleiter am Zürcher Neurozentrum und Leiter des Instituts für neuropsychologische Diagnostik und Bildgebung am Schweizerischen Epilepsie-Zentrum. Daneben arbeitet er als Fotograf.
Notenverbesserer Ritalin
Dieser Ritalin-Konsum beginne in der Zeit des Übertritts von der Primarschule zum Langzeitgymnasium, «um den gesellschaftlich definierten und gemachten Stress dieses Übertritts abzufedern», erklärt Jokeit. Ritalin werde dann für eine gewisse Zeit benutzt, um die Leistungsfähigkeit punktuell zu steigern.
«Die Intelligenz kann man mit Ritalin nicht steigern», sagt der Experte. «Aber man kann den Berg, der vor einem steht, ausdauernder und mit mehr Motivation und positiver Stimmung abarbeiten.»
Was Kinder mit ADHS angeht, beobachtet Jokeit in der Gesellschaft «eine Ideologie». Diese sorge dafür, dass «Verhaltensprobleme eines Kindes oder Jugendlichen, die in der Vergangenheit toleriert worden sind, jetzt von der Medizin analysiert werden.»
Mängel werden stigmatisiert
Wenn sich ein Kind in der Klasse auffällig verhalte, würden Lehrpersonen oft rasch gegenüber Eltern artikulieren, dass es untersucht werden solle. «Und sie sehen schon ganz klar die Indikation für eine Behandlung.»
«Das schafft Einzelschicksale, über die gesprochen wird», erklärt Jokeit. «Es ist ein Dammbruch: Ein positives Beispiel der Wirksamkeit von Ritalin in einer Schulklasse führt dazu, dass zwei, drei weitere folgen.»
«Technokratisierung aller Lebensbereiche»
Der Experte beobachtet in unserer Gesellschaft eine Abnahme von Toleranz gegenüber dem, was als Mangel angesehen wird: Die plastische Chirurgie designe Körper, und ein technologisch getriebenes Design sage einem, wie man Bauchmuskulatur und Po optimieren könne.
«Häufig selbsterklärte Fachexperten sind die Ingenieure einer Körperlichkeit oder eines Lifestyles», sagt Jokeit. Er sieht darin eine «Technokratisierung aller Lebensbereiche».
Gegen fast alles gibt es eine Pille
Die Elterngeneration sei mit dem Konzept aufgewachsen, dass eine Depression eine Stoffwechselstörung sei, nämlich ein Zuwenig an Serotonin. Wer so sozialisiert sei, sehe eine schlechte Stimmung schnell als Mangel, wegen der man zum Antidepressivum greife.
Warum solle man dann nicht auch ein Medikament wie Ritalin nehmen, um die geistige Leistungsfähigkeit zu verbessern? Zumindest denke sich das mancher.
Die Einnahme von verschreibungspflichtigen Medikamenten, um leistungsfähiger zu sein, habe sich enorm normalisiert, sagt auch Corina Salis Gross, die ebenfalls am Schweizer Institut für Sucht- und Gesundheitsforschung arbeitet.
In ihrer Forschung stehe inzwischen der Mischkonsum im Fokus. Dieser habe beunruhigende Auswirkungen. Derzeit leitet Salis eine Untersuchung zum Thema. Um das Phänomen zu verstehen, führt sie eine Online-Umfrage mit 14- bis 20-Jährigen durch, an der man sich hier beteiligen kann.
Allein im letzten Jahr seien über 30 Jugendliche an den Folgen von Mischkonsum gestorben, sagt die Forscherin. Viele seien sich über die Wechselwirkung der Präparate nicht im Klaren, die sie teils aus dem elterlichen Pillenschrank entnehmen und zusammen mit Alkohol konsumieren würden.
Die Teenager mischten Substanzen, um am Wochenende «gut drauf» zu sein, morgens «hoch-» und abends «runterzufahren», so Salis Gross. Wenn sie stundenlang feiern wollten, komme ausserdem Ritalin zum Einsatz.
Die Stimmung als Knetmasse
Die Jugendlichen setzen also Medikamente ein, um die Stimmung zu «modulieren», so ein Fachbegriff. Das wäre die Freizeitvariante. Menschen dopen sich allerdings auch am Arbeitsplatz oder in der Schule.
Experte Jokeit spricht von einer Leistungsethik, die vom Menschen «erwarte, Topleistungen zu erbringen». Dabei seien vielen viele Mittel recht und auch billig. Man schaue sich nur einen durchschnittlichen Pillenschrank mit Ginkgo- und Ginseng-Präparaten an.
Patricia hat diese Leistungsethik am eigenen Leib erfahren. Sie sei perfektionistisch geworden, erzählt sie: «Das hat sich auf alle Lebensbereiche ausgedehnt. Ich wollte eine gute Schwester, Freundin und Tochter sein und habe das Gegenteil erreicht. Viele in meinem Umfeld haben unter und mit mir gelitten.»
Sie sei immer wieder traurig gewesen, erinnert sie sich. Dabei habe sie doch so vieles unternommen, um zu genügen.
Leistungs- trifft Glückszwang
Das Gefühl, versagt zu haben, das Patricia beschreibt, resultiere aus einem neuen gesellschaftlichen Imperativ, erklärt Jokeit, und der sei ein doppelter: «Nicht nur Topleistungen zu bringen, sondern sich dabei auch noch supergut zu fühlen.»
Das Problematische daran: «Wenn man diesem doppelten Imperativ nicht gerecht wird, schlägt das in eine doppelte Negativität um.» Man habe dann also «weder Topleistung noch top Gefühl».
Der Beruf soll erfüllen
Unsere heutige Zeit sei gekennzeichnet durch «maximalen Freiheitsanspruch gepaart mit maximalem Glücksanspruch», so der Experte. Unsere Eltern- bzw. Grosselterngeneration hätte sich noch nicht gefragt, ob sie im Beruf glücklich sei. Dafür sei die Familie da gewesen.
Die Maximierung von Freiheit wird damit bezahlt, dass ich alles permanent bewerten muss.
Heute würden wir in einer hyperflexibilisierten Gesellschaft leben. Die Ehe sei nicht mehr gottgegeben, sondern man könne sich jederzeit von Frau und Kind verabschieden oder seine Staatsbürgerschaft aufgeben. «Diese Maximierung von Freiheit wird auch damit bezahlt, dass ich alles permanent bewerten und kritisieren muss», sagt Jokeit.
Glücksanspruch wird zum Fluch
Folgt man dem Neurowissenschaftler, heisst das: Wer früher die Möglichkeit hatte, seines Glückes Schmied zu sein, hat heute die Pflicht. Der Freiheits- und Glücksanspruch wird zum Fluch. Wer nicht glücklich ist, hat entweder versagt – oder konsumiert das falsche Präparat.
Patricia ist diesem doppelten Imperativ, gut gelaunt zu sein und Erfolg haben zu müssen, inzwischen entronnen, wenn auch erst spät. Immer wieder habe sie gezwungenermassen für drei bis vier Wochen kein Ritalin nehmen können, weil sie keines mehr hatte. Die Mengen, die sie konsumierte, waren so gross, dass sie aufgeflogen wäre, wenn sie schon wieder beim Arzt gestanden hätte.
Die verlorenen Jahre bringt mir niemand zurück.
In den Phasen ohne Ritalin sei sie viel glücklicher gewesen. «Ich habe sogar gelacht.» Dennoch sei sie immer wieder zur Substanz zurückgekehrt. Bis vor zweieinhalb Jahren, als sie eine Angstattacke erlitt.
Da habe sie beschlossen: «Nie wieder.» Seitdem nimmt sie nichts mehr. Und ist froh. Einerseits. Andererseits sagt sie heute: «Die verlorenen Jahre bringt mir niemand zurück.»
Eine andere Freiheit
Der Mensch ist ein Mängelwesen und bleibt es. Nicht alle Mängel zu beheben, wäre eine andere Freiheit: Man könnte auf Schönheitsoperationen verzichten, ein bisschen zu dick sein, könnte Falten tragen und Ritalin bleiben lassen. Man könnte im Partner nicht nur die Mängelliste sehen oder in Klassenarbeiten nicht nur die drei Fehler, sondern die 117 Richtigen.
Man könnte. Doch einfach ist das nicht in einer sich aggressiv optimierenden Gesellschaft mit ihrer zwanghaften Lizenz zum fehlerlosen Glück.