Das Thema ADHS polarisiert. Während die einen ADHS vor allem für ein Handicap halten, gelten ADHS-Betroffene anderen als Freigeister mit besonderer Begabung. Wie viel Wahrheit steckt hinter diesen medial vermittelten Bildern?
Der Psychiater Heiner Lachenmeier gilt als einer der führenden Experten zum Thema – und ist selbst «ADHSler», wie er sagt. Gespräch mit einem, der es wissen muss.
SRF: Für viele ist ADHS eine Krankheit, die behandelt werden muss oder zumindest ein Defizit. Wie sehen Sie das?
Heiner Lachenmeier: ADHS ist keine Krankheit, sondern eine Disposition im Sinne einer Tendenz mit Vor- und Nachteilen. Das kann zu Schwierigkeiten führen, die durchaus Krankheitswert haben können.
Nur: Das kann das Mann- oder Frausein auch. Als Frau kann man Gebärmutterkrebs bekommen, als Mann Hodenkrebs. Deswegen ist das Mann- oder Frausein per se aber noch keine Krankheit.
Es gelte, ADHS in seiner Funktionsweise zu verstehen, um in Beruf und Privatleben die Vorteile zu nutzen und die Nachteile zu mindern, schreiben Sie auf Ihrer Webseite. Was sind die Vor-, was die Nachteile von ADHS?
Die Vorteile von ADHS bestehen darin, dass man eine sehr grosse Assoziationsbreite hat, also einen Hang zur Kreativität. Wenn sich Jugendliche und Erwachsene mit ADHS zum Beispiel in einem Gebiet gut auskennen, sind sie weniger starr an die etablierten Wege gebunden.
Ein Mensch mit ADHS kann tatsächlich Lösungswege finden, die jemandem mit der gleichen Intelligenz ohne ADHS nicht so schnell einfallen.
Einem intelligenten Menschen mit ADHS kann schnell langweilig werden.
Auf der anderen Seite ist gerade das ein Nachteil, wenn man nicht in einem Beruf arbeitet, der diese ungewöhnlichen Lösungswege ermöglicht. Dann kann einem intelligenten Menschen mit ADHS unglaublich schnell langweilig werden, sodass er Dinge liegen lässt. Das sind die zwei Seiten der immergleichen Medaille. Hier ein Gleichgewicht zu finden, ist die hohe Kunst.
Haben ADHSlerinnen und ADHSler also eine unkonventionellere Denkweise?
Ja. Das ist das berühmte «Thinking out of the box». Nicht alle ADHSler sind aber Genies. Es gibt auch welche ohne überragende Intelligenz. Und auch Menschen ohne ADHS können unter Umständen einen anderen Blick haben als der Durchschnitt.
Unter schlechten Bedingungen hat man mit ADHS in jeder Gesellschaft sehr schlechte Karten.
In der medialen Berichterstattung wird ADHS vermehrt als Chance dargestellt. Was halten Sie davon?
Es entspricht dem Zeitgeist, dass man alles schönreden muss. Ich finde das unmöglich. Ich sehe ganz klar auch die Nachteile. Unter schlechten Bedingungen hat man mit ADHS sehr schlechte Karten in irgendeiner Gesellschaft, egal ob in der heutigen oder vor 100 Jahren. Und auch derjenige, der gute Karten hat, hat mit ADHS im Alltag deutlich mehr Schwierigkeiten.
Trotzdem liest man von regelrechten Erfolgsstorys, die den Eindruck nahelegen, Menschen mit ADHS seien die besseren Chefs oder in der Kreativbranche besonders erfolgreich. Wie erklären Sie sich das?
Diese mediale Bewirtschaftung ist eine Gegenbewegung. Jahrzehntelang hat man in ADHSlerinnen und ADHSlern, die etwa 5 Prozent der Bevölkerung ausmachen, nur das Negative gesehen. Meistens sehen Betroffene dann bei sich selbst auch nur noch die Schattenseiten. Das kommt erschwerend hinzu.
Und dann beginnt man plötzlich etwas vom Positiven zu sehen. Gerade wird das Thema ins Gegenteil verzerrt, indem man sagt: Da ist doch alles gut. Das ist eine verständliche, wenn auch nicht sinnvolle Reaktion.
Man ist mit ADHS kein besserer Mensch als ohne ADHS.
ADHSler sind keine Genies. Die Intelligenzverteilung ist bei ihnen genau gleich wie bei Menschen ohne ADHS. In Vorträgen sage ich immer: Man ist mit ADHS kein besserer Mensch als jemand ohne ADHS. Man ist primär einmal ein Mensch – mit allen Vor- und Nachteilen.
Sie haben selbst ADHS. Wie ist das bei Ihnen, welche Stärken und Probleme haben Sie?
Ich muss zum Beispiel daran denken, wie viele Schwierigkeiten ich als Erwachsener mit ADHS damit habe, diese blödsinnigen Krankenkassenberichte zu schreiben, die man heutzutage à discrétion produzieren muss. Das fällt mir sehr viel schwerer als jemandem ohne ADHS. Das ist eindeutig ein Nachteil.
Wenn es aber darum geht, neue Wege zu finden, habe ich dank ADHS auch Vorteile, denke ich. Schönreden möchte ich das aber überhaupt nicht. Ich rede nur deshalb häufiger über die positiven Dinge, weil die negativen Aspekte von ADHS in der Öffentlichkeit schon genügend vorkommen.
Das Gespräch führte Franz Kasperski.