Kilian Chirici steht auf einem Betonklotz am Flughafen Zürich beim «Restaurant Runway 34», dem Plane-Spotter-Platz schlechthin, und späht nach Flugzeugen. Der Schreinerlehrling ist 20 Jahre alt und hat eine riesige Leidenschaft für Flugzeuge. Er und seine Mutter hätten erst um neun Uhr morgens am Flughafen sein müssen für die Dreharbeiten mit dem SRF-Gesundheitsmagazin «Puls».
Kilian aber ist um vier Uhr bereits aufgestanden, um rechtzeitig vor Ort zu sein, wenn die Flieger von Süden her am Flughafen Zürich landen.
Kilian Chirici hat ADHS. Er ist hyperaktiv, impulsiv und kann sich schlecht auf eine Sache konzentrieren – die drei Kernsymptome der Aufmerksamkeits-Defizit-und-Hyperaktivitäts-Störung. Kilian wäre für sein Leben gerne Pilot geworden. Aber seine schwachen schulischen Leistungen haben das verhindert. «Das ist nicht lustig, aber es ist halt so», murmelt er. «Ich kann ja dafür an den Flughafen kommen. Und wer weiss, vielleicht kann ich ja mal in einem Cockpit mitfliegen.»
Als würde man einen Kuhdraht anfassen
Dass Kilian so schlecht in der Schule war, liegt an seinem ADHS. Kilian war schon von klein an auffällig, in der Primarschule dauernd in Raufereien verwickelt und ein schlechter Schüler. Immer unkonzentriert und leicht ablenkbar kam er mit dem Schulstoff nicht klar. X-Mal flog er von der Schule und wurde gemobbt. Trotz Medikamenten und Therapien mit einem Psychologen: Teilweise hielt Kilian die Situation fast nicht mehr aus und dachte daran, sich das Leben zu nehmen.
Auch seine Mutter möchte nicht in jene Zeit zurückmüssen: «Ich war wirklich an der Grenze», erinnert sich Daniela Chirici. «Manchmal wusste ich nicht, wie es weitergeht. Aber ich habe – wir haben – trotzdem nicht aufgegeben, weil ich wusste, dass er später sonst keine Chance hat.»
Schätzungen zufolge sind weltweit etwa fünf Prozent der Kinder und drei Prozent der Erwachsenen von ADHS betroffen. Genaue Zahlen werden hierzulande keine erhoben. Meistens haben Betroffene eine genetische Veranlagung. Rund 80 Prozent der Fälle sind vererbt.
Trotz der vielen schwierigen Jahre ist aus Kilian Chirici ein offener junger Mann geworden, der heute vielleicht ein bisschen viel redet und den man, wenn man seine ADHS-Diagnose nicht kennt, vielleicht als etwas nervös beschreiben würde. Denn die Energie, die in ihm drin ist, ist spürbar – und auch immer noch gleich stark wie früher: «Als würde man einen Kuhdraht anfassen, der unter Strom steht», beschreibt Kilian seine Energie. «Mit dem Unterschied, dass ich diesen Stromstoss andauernd verspüre.»
ADHS als TikTok-Challenge
Wie hat er es geschafft, mit seiner hyperaktiven Energie umzugehen, diesem steten Strom? Manchmal wisse er das selbst nicht, meint er. «Ich nehme sie als TikTok-Challenge und versuche sie einfach so gut wie möglich zu meistern», ist Kilians Antwort.
Am Flughafen Zürich kann er besonders gut Energie ablassen. «Ich kanalisiere diese Energie zum Beispiel, indem ich mich warmhalte. Am Morgen ist es hier sehr kalt, da renne ich auf dem Parkplatz hin und her und versuche meine Energie umzupolen, damit ich einerseits warm habe und andererseits ruhiger bin fürs Filmen und Fotografieren. Ich nutze die Energie auch, um mich zu freuen. Manchmal freue ich mich in meiner Impulsivität so sehr, dass ich fast ausflippe!»
Kilian Chirici hat es geschafft, seine Energie als etwas Positives zu sehen. «Wenn mich etwas fasziniert, dann kann ich mich voll darin vertiefen. Ich weiss zum Beispiel alles über Aviatik. Beim Plane Spotten habe ich den Vorteil: Wenn es mal schnell gehen muss, um einen Flieger fotografisch zu erwischen, dann bin ich schneller als die anderen Spotter, weil ich aufmerksamer bin. Die haben zum Teil auch super Kameras, aber ich sehe die Flieger schneller als die. Auch für solche Situationen nutze ich das ADHS.»
Nur bei der Arbeit, da gelingt es ihm noch nicht so gut, die Energie zu kanalisieren. Vielleicht, weil er noch nicht den richtigen Job für sich gefunden hat. «Das ist eben der Trick», meint Daniela Chirici, «Ich denke, man muss seine Stärken nutzen können. Die Schwächen sind ja klar, die sind da. Aber ADHS hat auch Stärken und es ist eine Kunst, aus diesen das Richtige zu machen.»
Drei Jobs dank ADHS? Vielleicht, ja!
Christian Jott Jenny hat das geschafft. Auch er hat ADHS. Aber er hat seinen beruflichen Weg voll und ganz gefunden. Zum einen führt er das «Amt für Ideen», eine Produktionsfirma für Kulturanlässe wie zum Beispiel das Freiluft-Musiktheater Trittligasse. Jenny ist aber nicht nur Produzent, er ist auch Entertainer, Tenorsänger und nicht zuletzt Gemeindepräsident von St. Moritz.
So viele Jobs miteinander, erfolgreich und bekannt – dank seiner Hyperaktivität? «Vielleicht, ja. Dass wir tendenziell mehr Kapazität haben, das liegt auf der Hand», überlegt Jenny. «Aber: Ich würde es sogar umdrehen und sagen: Ich kann nur drei Jobs. Ich habe so viele Interessen, denen ich nachgehen will – und mir wird es extrem schnell langweilig. Bei mir geht das gar nicht anders.»
Fast könnte man neidisch werden, gerade in der heutigen Leistungsgesellschaft, in der viel arbeiten positiv gewertet wird. «Das kann man so sehen», meint Jenny dazu. «Aber der entscheidende Punkt ist, dass man diese Energie irgendwann aktiv realisiert, versteht und nachvollziehen kann. Und wenn es einen zu sehr hindert im Privat- oder Berufsleben, dass man eine Strategie mit sich selber findet, wie damit umgehen.»
Konzentrierte Momente nutzen
ADHS war auch bei Jenny schon als Kind Thema. Auch er fiel in der Schule auf. Seine Lehrerin aber hielt nichts von Ritalin und liess den Buben einfach um den Block rennen, um Energie loszuwerden. Richtig abgeklärt und diagnostiziert wurde er erst viel später, während dem Studium. «Irgendwo oben im Büro liegt die siebenseitige Diagnose der Universität Zürich.»
Dass er ADHS hat, kümmert ihn heute wenig, weil er sehr gut damit lebt: «Es gibt Momente, die sehr konzentriert sind. Da weiss ich: Jetzt kann ich innerhalb von ein oder zwei Stunden Sachen erledigen, die sich wahrscheinlich in den letzten Tagen und Wochen im Kopf schon bereit gemacht haben.»
Sich sein eigenes Umfeld schaffen
Übrigens: Auch Christian Jott Jenny wollte Pilot werden – hat aber schnell gemerkt, dass es vielleicht nicht das Richtige für ihn ist: «Am meisten Spass hatte ich beim Funken und hat mir dann der Instruktor gesagt, ich soll zuerst denken und danach sprechen, weil der Flugfunk nicht zum Plausch da sei. Und das ist halt genau das: Ich habe das eher spielerisch genommen, aber fliegen ist etwas, das man ernst nehmen muss.»
Jenny hat zwar sogar den Pilotenschein gemacht – aber sofort wieder aufgehört. Schon nach dem ersten Soloflug hat er den Schlüssel abgegeben, mit dem klaren Wissen, dass das nicht das Richtige war für ihn. «Ich bin viel zu impulsiv. Und Impulsivität braucht es bei einem Notfall eben genau nicht. Da muss man ruhig blieben. Da gibt es klare Abläufe und Prozeduren, die man einhalten muss. Leute wie ich finden das völlig übertrieben. Aber in so einer Situation wird es dann eben gefährlich.»
Wissen, wie und wo die eigene Energie passt, ist aber nur einer von Jennys Tipps, damit ADHSler im Job erfolgreich sein können: «Das Umfeld spielt eine enorm wichtige Rolle. Man muss sich sein eigenes Umfeld schaffen. Und das muss sich einfach zu einem gewissen Grad unterordnen, sonst geht es nicht. Böse gesagt, muss man sich wahrscheinlich selbstständig machen, damit man nicht irgendwo in einer Arbeit sitzt, wo man sich einordnen muss, womöglich mit sieben Chefs oben dran.»
Erfolgreiche ADHSler als Idole
Und wie ist es für Kilian, wenn er hört, dass andere trotz ADHS drei Jobs gleichzeitig schaffen, während er nur schon bei einem Job Mühe hat, sich zu konzentrieren? «Für mich ist es wahnsinnig schön», schwärmt Kilian. «Sie sind meine Idole. Sie pushen mich, dass ich auch meine Ziele erreiche. Vielleicht schaffe ich es ja doch irgendwann einmal, am Flughafen Zürich zu arbeiten, wer weiss. Jeder ADHSler kann etwas aus sich machen. Man muss einfach daran glauben.»
Auch Mutter Daniela freut sich, dass andere nicht denselben, schwierigen Weg gehen müssen wie Kilian. «Die Diagnose ADHS bedeutet nicht, dass immer alles schlecht ist. Man kann studieren oder eine Partnerschaft haben, jedes ADHS verläuft individuell.»
Wie wohl Kilians Leben verlaufen wäre, ohne ADHS? Kilians Antwort kommt wie aus der Pistole geschossen: «Langweilig!» Kilians Mutter lacht: «Das würde ich so nicht unterschreiben.» Aber er widerspricht: «Doch! So ist immer Action! Mit mir ist immer Action!»