Die junge Frau trägt einen Mundschutz. In asiatischen Ländern tun das die Menschen, um sich vor ansteckenden Krankheiten zu schützen. In Hongkong bietet die Gesichtsmaske neuerdings auch die Möglichkeit, anonym zu bleiben. Wer bei Protestmärschen mitläuft, fürchtet behördliche Überwachung.
Bei der Frau auf dem Foto kommt noch mehr hinzu: Die Schriftzeichen auf ihrem Mundschutz bedeuten je nach Leserichtung «Hongkong» oder «Leg los!» – der Schlachtruf der Protestbewegung.
Das Porträt der jungen Frau hat die Fotografin May James am 18. August des letzten Jahres aufgenommen. An einer Protestkundgebung, an der 1.7 Millionen Menschen friedlich teilgenommen haben.
May James sagt von sich selber, sie sei quasi hineingerutscht in die Rolle der fotografischen Dokumentaristin der Hongkonger Proteste. Sie sieht sich nicht parteiisch auf der Seite der Protestierenden, auch wenn sie zuvorderst an der Frontlinie der Proteste mitläuft. «Ich finde nicht alles gut, was die Protestierenden machen», sagt sie. «Aber ich kann sie sehr gut verstehen».
Die Hongkonger wollen mitbestimmen
Wie viele Hongkonger interessierte sie sich ein Leben lang nicht sonderlich für Politik. Doch dann kam der Juni 2019 und die Proteste gegen das Auslieferungsgesetz. Dieses hätte es Hongkong erlaubt, verdächtigte Personen in die Volksrepublik auszuliefern.
Die Hongkonger befürchteten, dass dieses Gesetz der politischen Kontrolle dient und gingen dagegen auf die Strasse. Alte und Junge, Wohlhabende und weniger Begüterte, Professoren und einfache Arbeiter – nahezu ein Drittel der Bevölkerung.
Die Proteste gehen weiter, auch nachdem die Regierung das Auslieferungsgesetz im September zurückgezogen hat. Nun geht es um Grundsätzliches. Um die Identität Hongkongs, um Freiheit und Mitbestimmung.
«Wir kämpfen um unsere Zukunft», sagt May James. «2047 wird Hongkong seinen Sonderstatus verlieren und Teil des sozialistischen Chinas sein. Ich selber werde das vielleicht nicht mehr erleben, aber meine Töchter. Es ist ihre Zukunft – und sie möchten diese mitbestimmen können.»
Chaos und Gewalt vor der Linse
Die Proteste sind gewalttätig, die Polizei verwendet Tränengas, Pfefferspray und Wasserwerfer. May James erlebt alles hautnah mit, auch wird sie einmal vorübergehend verhaftet. Ein Ausschnitt ihrer Arbeiten aus den Monaten August und September:
In der Metrostation Yuen Long hatte im Juli ein rätselhafter Überfall von Schlägertruppen auf Protestierende stattgefunden, mit Dutzenden von Verletzten.
Fast täglich finden im August Demonstrationen statt, die in Zusammenstössen enden. Bürgerkriegsähnliche Zustände erschüttern die Stadt.
Schliesslich kommt es am 31. August zu einem Vorfall in der Metrostation Prince Edward: Die Polizei verprügelt Fahrgäste in den Bahnwagen. Das Gerücht macht die Runde, es seien Menschen dabei zu Tode gekommen.
Niemals aufgeben – ein Grundwert in Hongkong
May James fotografiert auch die friedlichen Momente, die Momente einer überwältigenden Solidarität unter den Hongkongern. Am 13. September machen sich Hunderte von Hongkongern auf den Weg zum Lion Rock, dem Hausberg Hongkongs, um dort eine Lichterkette zu bilden.
«Lion Rock Spirit» nennen die Hongkonger ihren Kampfgeist und ihre Hartnäckigkeit, mit der sie ihre prosperierende Finanzmetropole aufgebaut haben. «Gib niemals auf», ist einer der Kernsätze des Lion Rock Spirit.
«Was mich bei den Protesten sehr berührt, ist die Einigkeit unter den Hongkongern», sagt May James. Sich gegenseitig unterstützen, am gleichen Strick ziehen für ein grosses Ziel, kombiniert mit einer nicht ermüdenden Ausdauer – das ist der Lion Rock Spirit. Damit haben die Hongkonger schon manches Wunder zustande gebracht.
Sendung: SRF 1, Kulturplatz, 22.1.2020, 22:25 Uhr