Seit bald einem Monat kommt Hongkong nicht zur Ruhe. Nach zwei Protestmärschen mit bis zu zwei Millionen Teilnehmern gegen ein geplantes Auslieferungsgesetz hat die Regierung dieses auf Eis gelegt.
Doch Zehntausende, hauptsächlich junge Menschen, kämpfen weiter. Für sie geht es um mehr als um das Gesetz: Sie kämpfen dafür, ihre Identität als Bürger Hongkongs auch in Zukunft bewahren zu können. SRF hat in Hongkong mit vier Demonstranten gesprochen, die am 1. Juli das lokale Parlamentsgebäude gestürmt haben.
Auf eine Nachricht im lokalen, «Reddit»-ähnlichen Forum, über das sich die Bewegung organisiert, haben sich über 30 Demonstranten bei SRF gemeldet. Sie brannten darauf, ihre Sicht der Dinge darzulegen. Um ihre Anonymität zu wahren, haben sich alle einen englischen Namen als Pseudonym ausgesucht. Während den Interviews waren alle nervös. Ihre Hände zitterten.
Der Politik-Student und der Informatiker
Es regnet in Strömen. Wir treffen den 21-jährigen Peter und den 24-jährigen Nick an einer Metro-Station auf dem Festland. Sie bringen uns in ein Einkaufszentrum, das um 23 Uhr bereits geschlossen ist. Wir setzen uns an einen Tisch in einer dunklen Ecke.
Aus einem halbdemokratischen Hongkong wird gerade ein autoritärer Staat.
Peter studiert Politikwissenschaft. «Aus einem halbdemokratischen Hongkong wird gerade ein autoritärer Staat», sagt er. «Diesen Teenagern geht es nicht um die Wirtschaft, sondern um Freiheit, Würde und Demokratie. Wir haben nichts zu verlieren». Das ist eine Aussage, die man immer wieder hört: Es gebe nichts mehr zu verlieren. Die Hoffnung auf eine Regierung, die sich ihrer Sorgen annimmt, haben alle diese jungen Menschen aufgegeben.
«Ehrlich gesagt, ich glaube nicht, dass die Regierung einlenkt», sagt Peter. «Aber ich gehöre zu dieser Generation, es ist meine Pflicht, aufzustehen. Das kriege ich nicht aus meinem Kopf». Peter und Nick wollen weiterkämpfen. Beide können sich radikale Aktionen vorstellen. Ihre rote Linie bei künftigen Aktionen: Menschen dürfen nicht verletzt werden. Es gehe um die Symbole der Regierung.
Beide, so sagen sie, haben Angst. Für den Einbruch ins Parlament könnten sie mit bis zu zehn Jahren Gefängnis bestraft werden – und beide waren drin. Eigentlich, sagt Peter, würden sie ja lieber Computerspiele spielen. Das Gespräch dauert über eine Stunde und handelt von Selbstverbrennungen in Tibet bis zu den Gelbwesten in Frankreich. Beide sprechen wohlüberlegt und artikulieren ihre politischen Ideen präzise.
Der Psychologie-Student
An einer Universität treffen wir Jason. Er studiert Psychologie und betreut nebenher Studenten, die im Studium nicht klar kommen. Die Situation in Hongkong setzt vielen seiner Generation zu. Drei junge Menschen haben sich seit Beginn der Proteste das Leben genommen und Abschiedsnotizen im Zusammenhang mit den Protesten hinterlassen. Sie gelten als Märtyrer der Bewegung. Die Regierung hat die Suizide nie erwähnt.
Es ist doch völlig egal, ob eine oder zwei Glasscheiben kaputt gegangen sind. Wir haben bereits drei Menschenleben verloren.
«Wir wurden zu diesen Aktionen gezwungen», sagt Jason. «Es ist doch völlig egal, ob eine oder zwei Glasscheiben kaputt gegangen sind. Wir haben bereits drei Menschenleben verloren. Die Regierung hat uns in eine Sackgasse getrieben.»
1998 wurde Jason geboren, ein Jahr nach der britischen Übergabe von Hongkong an China. Bis 2008 sei er stolz gewesen, Chinese zu sein, meint Jason. Die letzten zehn Jahre hätten aber vieles verändert. «China untergräbt unsere Werte und unsere Freiheit», sagt er.
In Hongkong könne man heute nur noch erfolgreich sein, wenn man in die Wirtschaft gehe – wenn man zum Beispiel für eine Bank arbeite. Aber er wolle Psychologe werden. «Ich zähle mich zur Spitze meiner Generation, aber ich fühle eine tiefe Verzweiflung und habe keine Hoffnung mehr. Das prägt unsere Generation. Hoffnung ist sehr wichtig», sagt er.
Auch er hat Angst. Die Polizei hat auch schon Hausdurchsuchungen in den Studentenwohnheimen durchgeführt. Die Studenten gehören zum Kern der Bewegung. Es ist Sommerpause und sie haben Zeit, auf der Strasse zu protestieren.
Der Wirtschaftsstudent
Im Viertel Mong Kok, einem der am dichtesten besiedelten Orte der Erde, treffen wir Justin. Auf der Tribüne eines Fussballstadions erzählt er uns, wie er am 1. Juli ins Parlament gestürmt ist. «Ich fühlte eine unendliche Wut und eine riesige Ohnmacht», sagt er. «Nach so vielen Protesten, so vielen Aktionen, nachdem ganz Hongkong seine Meinung ausgedrückt hat, tut die Regierung nichts.» Es liegt eine tiefe Frustration in seiner Stimme.
Das Parlament ist kaputt, es existiert nicht mehr, es trägt nur noch den Namen.
China-freundliche Medien haben die Aktion vom 1. Juli – als Demonstranten das Parlament stürmten – als Krawall dargestellt. Die jungen Demonstranten halten dagegen: «Es war eine symbolische Aktion», sagt Justin. «Das Parlament ist kaputt, es existiert nicht mehr, es trägt nur noch den Namen. Es ist eine Finte.» Justin sagt, sie hätten sogar in der Parlamentskantine für die Softdrinks bezahlt, die sie aus dem Kühlschrank genommen haben.
«Auch die Drohung von zehn Jahren Gefängnis schmälert unsere Wünsche für Demokratie und Freiheit nicht», sagt Justin. «Es geht um die nächsten 20 oder 30 Jahre – oder die ganze Zukunft Hongkongs. Wir setzen uns keine Grenzen.»