Nach der Stürmung des Parlamentsgebäudes in Hongkong hat die Polizei die restlichen Demonstranten mit Tränengas vertrieben. Hunderte hatten stundenlang den Saal besetzt und teilweise verwüstet. Hintergrund der Unruhen ist das umstrittene Auslieferungsgesetz. Es würde der Hongkonger Justiz erlauben, Verdächtige an China auszuliefern. Der ARD-Journalist Markus Pfalzgraf ist derzeit in Hongkong und schildert seine Eindrücke.
SRF News: Wie ist die Stimmung in der Stadt aktuell?
Markus Pfalzgraf: Heute, am Morgen danach, herrscht eine angespannte Ruhe. Ich war erneut am und im Parlamentsgebäude. Dessen Räumung letzte Nacht ging sehr schnell. Die Hunderten von Menschen, die vorher im Gebäude gewesen waren, sowie die Tausenden auf den Strassen drumherum, wurden rasch vertrieben. Ich konnte nur noch die Spuren der Verwüstung sehen.
Diese Spuren der Verwüstung werden jetzt aufgeräumt. Da sind noch ein paar Barrikaden, da liegen noch ein paar Helme herum. Die Behörden sorgen nun dafür, dass hier in Hongkong wieder so etwas wie Normalität einkehrt.
Bisher verlief der Protest friedlich. Wieso dieser Gewaltausbruch?
Das liegt vielleicht daran, dass die Protestierenden – vor allem die Jüngeren –, die da in schwarzen T-Shirts das Parlamentsgebäude belagert haben, von einer gewissen Verzweiflung getrieben sind. Ich habe mit vielen gesprochen, die gesagt haben, sie rechneten sich eigentlich kaum noch grosse Chancen aus, dass ihre Forderungen erfüllt werden. Aber Sie möchten einfach endlich gehört werden, sie möchten endlich ihrem Frust und ihrem Ärger Ausdruck verleihen. Und vielleicht kam es deshalb auch zu diesem Gewaltausbruch.
Hongkongs Regierungschefin Carrie Lam deutete an, sie könne auf das Auslieferungsgesetz verzichten. Wie realistisch ist es, dass sie das tut?
Das ist so ein halber Verzicht, den die Regierungschefin in Aussicht gestellt hat. Sie hat schon mehrfach erklärt, dass sie das Gesetz aussetzt und es nicht mehr in dieser Legislaturperiode im Legislativrat – dem Parlament – behandelt werden soll, und dass die Sache damit dann auch erledigt sei. Aber viele Menschen verstehen nicht, warum sie es nicht komplett zurückzieht.
Viele Menschen hier verstehen nicht, warum die Regierungschefin das Auslieferungsgesetz nicht komplett zurückzieht.
Das ist die Forderung der Hunderttausenden friedlich Demonstrierenden in Hongkong. Es scheint ein Mittelweg zu sein, den die Regierungschefin immer noch versucht zu finden. Einer, mit dem sie die Demonstrierenden ruhigstellt, aber trotzdem noch aufseiten Pekings bleibt. Denn die Zentralregierung in China möchte dieses Auslieferungsgesetz. Aber viele der Menschen hier verstehen nicht, wieso Lam nicht noch weiter auf die Menschen zugeht.
Mit diesem teilweisen Rückzug signalisiert Lam aber auch, dass Gewaltanwendung funktioniert...
Das ist genau das Dilemma, in dem sie steckt. Sie muss Zugeständnisse machen, weil die Stadt sonst nicht zur Ruhe kommt. Andererseits muss sie auch Peking zufriedenstellen. Sie ist keine frei gewählte Regierungschefin, obwohl das Parlament halb demokratisch ist, sondern sie ist eine Regierungschefin von Pekings Gnaden. Deshalb wagt sie diesen Spagat. Und manche vermuten, dass sie früher oder später ihren Posten räumen muss.
Peking kann es sich nicht erlauben, schon wieder eine Regierungschefin zu verschleissen.
Auf der anderen Seite kann es sich Peking eigentlich nicht erlauben, schon wieder eine Regierungschefin zu verschleissen, denn auch ihre Vorgänger sind relativ unehrenhaft gescheitert. Das ist das Dilemma, in dem sie im Moment steckt, und deshalb wird die Stadt auch nicht so schnell zur Ruhe kommen.
Das Gespräch führte Christina Scheidegger.