Die Schweizerinnen waren spät dran: Erst 1971 erhielten sie das Recht, auf Bundesebene abzustimmen und sich in Ämter wählen zu lassen. Zwölf Frauen zogen damals ins Eidgenössische Parlament ein. Drei Jahre später, am 4. Dezember 1974, kam es zu einer weiteren Premiere: Margrith Bigler-Eggenberger (1933–2022) wurde als erste Frau ins Bundesgericht gewählt.
Dass Frauen Karriere machen können, wurde ihr bereits als Jugendliche klar: Margrith Bigler-Eggenberger wuchs in einer gebildeten und politisch engagierten Familie im Kanton St. Gallen auf.
Ihre Mutter leitete die sozialdemokratische Frauengruppe in Uzwil. Ihr Vater war dort Gemeindeammann, bevor er zum Regierungsrat und später zum National- und Ständerat aufstieg. Die Eltern stellten sich während des Zweiten Weltkriegs gegen die Frontisten und nahmen Flüchtlinge auf. Auch nach dem Krieg gingen bei ihnen viele Leute ein und aus, darunter emanzipierte berufstätige Frauen – die für sie zum Vorbild wurden.
Anwaltskanzleien den Männern vorbehalten
Die junge Margrith trieb es nach der Matura zum Jurastudium nach Zürich und Genf. Schon damals wollte sie Richterin werden. Das war jedoch unrealistisch, wie sie später erzählt: «Ohne Stimm- und Wahlrecht konnten sich die Frauen nicht in eine Richterposition wählen lassen.»
Die ersten Schwierigkeiten taten sich nach dem Studium auf, als sie das Anwaltspatent anstrebte. Dafür benötigte sie einen Praktikumsplatz. Sie fand aber keine Kanzlei, die bereit war, eine Frau aufzunehmen. Schliesslich kam sie bei einem Amtsgericht unter.
Nur mit der Zustimmung des Ehemanns
Mit dem Patent in der Tasche trat die mittlerweile verheiratete Margrith Bigler-Eggenberger eine Stelle im Kanton Bern an. Auf Wunsch ihres Ehemanns arbeitete sie allerdings nur Teilzeit. Er hätte ihr die Berufstätigkeit sogar ganz verbieten können: Denn hierfür benötigten Frauen bis zur Revision des Eherechts 1988 das Einverständnis ihres Mannes.
Bigler-Eggenberger kniete sich in die Arbeit als Anwältin und war in Frauenorganisationen aktiv. Bald erhielt sie Lehraufträge an der Hochschule St. Gallen und ein Engagement am dortigen Versicherungsgericht.
Diese Tätigkeit wurde zum Sprungbrett: 1972 kam Bigler-Eggenberger als Ersatzrichterin ans Bundesgericht. Bei ihrer Kandidatur für den Posten einer ordentlichen Richterin 1974 war sie keine Unbekannte.
Manipulierter Lebenslauf
Zunächst nahm alles seinen regulären Gang: Die Juristin schickte ihren Lebenslauf mit ihren Qualifikationen ans Parlament, das über ihre Wahl zu entscheiden hatte. Doch dieser Lebenslauf kam im National- und Ständerat nie an.
Bemerkt wurde dies von ihrem Vater, der damals für den Kanton St. Gallen im Ständerat sass. Als er die Unterlagen schliesslich in die Hände bekam, sei er entsetzt gewesen, erinnert sich die spätere Bundesrichterin noch Jahrzehnte später.
Er fragte sie, warum sie einen derart dürftigen Lebenslauf eingereicht und nur aufgeführt habe, dass sie mal ein Praktikum gemacht und ein bisschen gearbeitet habe. In den Unterlagen fehlten aber die relevanten Qualifikationen.
Ungeklärte Täterschaft
Bis heute ist nicht bekannt, wer Bigler-Eggenbergers Lebenslauf damals zusammenstrich. Die Historikerin Elisabeth Joris spricht von einem Skandal: «Das war ein Beispiel der unverschämten Haltung Frauen gegenüber, die nicht als Gleiche angesehen wurden, trotz der Einführung des Stimm- und Wahlrechts. Und von dieser Haltung leitete sich sogar die Berechtigung ab, Unterlagen zu fälschen.»
Doch die Intrige zeigte Wirkung: Bigler-Eggenberger wurde eingewählt – wenn auch nur knapp. Es hiess, sie sei direkt «vom Kochtopf ans Bundesgericht» gekommen.
Gewerbefreiheit für Sexarbeiterin
Der ersten Bundesrichterin wehte ein rauer Wind entgegen. Sie blieb in Lausanne lange eine Aussenseiterin, die von den Berufskollegen geschnitten oder ganz ignoriert wurde. Als Ersatzrichterin hatte sie jedoch bereits bewiesen, dass sie sich durchsetzen konnte.
So stützte sie die staatsrechtliche Beschwerde einer Sexarbeiterin, die sich ihren Standplatz von der Stadt Zürich nicht vorschreiben liess. Bigler-Eggenberger argumentierte, dass die Handels- und Gewerbefreiheit auch für Prostituierte gelte. Ein wegweisendes Urteil, das Sexarbeit ohne moralische Wertung als berufliche Tätigkeit einstufte, so die Historikerin Elisabeth Joris.
Eine massgebliche Rolle spielte die Bundesrichterin auch 1977 beim ersten Lohngleichheitsprozess. Eine Lehrerin hatte eine staatsrechtliche Beschwerde gegen Lohndiskriminierung eingereicht und Recht bekommen.
Vorwurf «Kindsmörderin»
Besonders schwierig wurde es für Bigler-Eggenberger aufgrund ihrer politischen Stellungnahmen. Als sie sich für einen straflosen Schwangerschaftsabbruch engagierte, wurde sie öffentlich diffamiert. Es hiess, am Bundesgericht sei eine «Kindsmörderin» zugange.
Noch ein Jahr vor ihrem Tod erinnerte sie sich daran: «Das hat mich sehr getroffen. Das hat den Bogen überspannt.» Selbst von Parteifreundinnen sei sie fallen gelassen worden. Sie hielt jedoch unbeirrt an der feministischen Losung fest: «Das Private ist politisch.»
Zukunftstraum geht in Erfüllung
Bigler-Eggenberger war 17 Jahre lang die einzige Frau am Bundesgericht. Als sie 1994 abtrat, träumte sie davon, dass es einmal zehn bis 15 Frauen wären. Ihr Wunsch ist mittlerweile erfüllt: Von den 40 hauptamtlichen Posten sind 15 mit Frauen besetzt. Ihnen ging Bigler-Eggenberger als Pionierin voraus – allen Widerständen zum Trotz.