«In St. Gallen wollten wir den Schlüssel schon rumdrehen und dicht machen», sagt Harry Wiener, der sich seit Jahrzehnten in der Synagoge im Stadtzentrum engagiert. Waren es vor 100 Jahren noch über 1000 Seelen, zählt die Gemeinde heute nur noch 120 Mitglieder. Viele davon sind hochaltrig.
Selbst jetzt an den hohen Feiertagen – zum Beispiel an Jom Kippur – hat die Gemeinde Mühe, die Synagoge voll zu bekommen. Selten kommt die nötige Anzahl von zehn Männern für einen orthodoxen Gottesdienst zusammen.
St. Gallen droht dasselbe Schicksal wie so mancher jüdischen Kleingemeinde auf dem Land oder in kleinen Städten: Längst aufgegeben wurden Betsäle in Liestal, Uster oder Montreux. Die Gemeinde in Solothurn scheint nur noch auf dem Papier zu existieren. Die Synagoge in Biel wird nur unregelmässig vom Berner Rabbiner mitbedient. In Delemont steht die Jugendstil-Synagoge seit 20 Jahren leer. Und die ehemaligen «Judendörfer» Endingen und Lengnau AG wirken heute wie Museen.
Darum schrumpfen die jüdischen Gemeinden
Die Gründe für das Schrumpfen von kleinen, orthodox geführten Einheitsgemeinden sind schnell aufgeführt und doch komplex. Es sind drei As, die ihnen zu schaffen machen:
- Assimilation in der nicht-jüdischen Mehrheitsgesellschaft
- Auswanderung nach Israel und in die USA
- Abwanderung nach Genf, Basel und Zürich
Die einst stolze St. Galler Gemeinde ist besonders von der Ab- und Auswanderung betroffen. Am jährlichen Gemeindebrunch auf einem Bauernhof in Bischofszell nehmen nur noch 30 jüdische St. Galler teil.
Die Welt bewegt sich rascher als die Religion
Der ehemalige Gemeindevorstand Harry Wiener beklagt, dass innerhalb der jüdischen Gemeinschaft eine Art Individualismus eingekehrt sei, genau wie in der Mehrheitsgesellschaft. Auch Kirchen und Vereine haben Mühe, Mitglieder und Mitwirkende zu halten. Und: Die Menschen – wie er selbst – seien heute emanzipiert von patriarchaler Religion. Da fällt es schwerer, die alten Traditionen und ihren tiefen mystischen Sinn zu vermitteln.
Aus Solidarität mit seiner jüdischen Gemeinde kommt Harry Wiener zum Gottesdienst, der nur noch zweimal im Monat stattfindet.
Andere haben die Region bereits verlassen, um in Zürich, Genf oder im Ausland Lohn und Brot zu verdienen. Dort finden jüdische Familien zudem ein diverseres jüdisches Angebot: von liberal bis ultraorthodox.
Mehr innerjüdischer Dialog nötig
Um mehrere und diversere Gemeinden gründen zu können, muss man eine gewisse Grösse haben. «Wir sind hier 100 Leute, da können wir nicht drei Gemeinden unterhalten», sagt auch Olaf Ossmann in Winterthur.
Der Jurist ist neu Präsident der jüdischen Gemeinde Winterthur IGW, eine orthodox geführte Einheitsgemeinde. Ossmann warnt eindringlich vor einem Auseinanderdriften und plädiert für mehr innerjüdischen Dialog: «Meine Grossmutter sagte immer: Das grösste Problem, das wir Juden haben können, ist: wenn wir zu wenige sind.»
Die Einheitsgemeinde ist für den Juristen Ossmann nach wie vor ein gutes Konzept für kleine jüdische Gemeinden. Dafür braucht es aber Kompromissbereitschaft von allen Seiten. Zu Kompromissen seien liberal-religiöse Juden auf der einen Seite und streng religiöse auf der anderen Seite häufig nicht mehr bereit.
Die Gemeinden schwächeln, die Kultur boomt
Der Mitgliederschwund hat jedoch kaum Auswirkung auf das Angebot an jüdischer Kultur hierzulande. Dieses ist – insbesondere in Relation zur recht kleinen Zahl von rund 18'000 jüdischen Menschen in der Schweiz – enorm. Am Europäischen Tag Jüdischer Kultur, jeweils Anfang September, zeigen jüdische Institutionen der Schweiz, was sie zu bieten haben: Konzerte, Filme, Lesungen und Führungen durch Synagogen. Nicht-jüdische Institutionen wie Kirchen, Universitäten und Vereine wirken fleissig mit.
Die Attraktivität jüdischer Kulturevents hat jedoch kaum Auswirkungen auf die Mitgliederzahl der jüdischen Gemeinden. Das Angebot wird zum grössten Teil von interessierten, nicht-jüdischen Menschen wahrgenommen.
In den Ballungszentren ballt sich auch das Judentum
Anders als in ländlichen Regionen gibt es in Basel, Genf und Zürich – mit mehreren Tausend jüdischen Menschen – auch die Möglichkeit zur religiösen Diversifizierung. Neben einer orthodox geführten Einheitsgemeinde gibt es in den Schweizer Grossstädten auch liberal-religiöse und ultraorthodoxe Kleingemeinden.
In liberalen Gemeinden sind Frauen im Gottesdienst gleichberechtigt. Im egalitären Gottesdienst dürfen Frauen ebenso wie Männer mit der Torarolle im Arm tanzen und daraus vorlesen. Auch Rabbinerinnen sind hier im Einsatz.
Die Basler Gemeinde «Migwan» (Vielfalt) steht beispielhaft dafür, wie Kleingemeinden dem Mitgliederschwund trotzen: Gleichberechtigung für Frauen und Offenheit für gemischt-religiöse Paare und Familien. Auf diese Gruppen reagierten orthodoxe Einheitsgemeinden in der Vergangenheit nur zögerlich, wodurch viele ihnen über die Jahre hinweg den Rücken kehrten.
Öffnung kommt, aber sehr spät
Mit neuen, dynamischen Rabbinern wie Noam Hertig in Zürich und Moshe Baumel in Basel öffneten sich die orthodox geführte Einheitsgemeinden stärker für nicht-jüdische Familienangehörige.
Doch: All diese Öffnungen kommen für viele jüdische Menschen zu spät. Sie haben sich längst abgewandt vom religiösen Judentum. Die Mehrheit der Jüdinnen und Juden hierzulande lebt säkular.
Zuzug aus dem Ausland reicht nicht
Belebend, in Verfolgungszeiten auch belastend, war von jeher der Zuzug von Juden und Jüdinnen aus dem Ausland. Der wurde ab 1866 möglich: Damals gewährte die Schweiz, als einer der letzten Staaten Europas, Juden Bürgerrechte und volle Niederlassungsfreiheit. Der Zuzug aus dem Ausland wiegt den Mitgliederschwund jedoch nicht auf. Denn: Längst nicht alle Zugezogenen schliessen sich jüdischen Gemeinden hierzulande an.
Das Gemeindesterben – vor allem auf dem Land und in kleinen Städten – wird vorerst kein Ende nehmen. So könnten von den Gemeinden in Biel, Baden oder gar St. Gallen bald nur noch die hübschen Synagogen zeugen.