Walter Schütz hätte sich Kinder gewünscht, seine Frau wollte keine. Vor fünf Jahren ist sie gestorben. Jetzt ist er 80 und alleine.
«Einsam bin ich nicht», betont er. Zweimal die Woche gehe er mit Nachbars Hund Gassi und esse bei ihnen zu Mittag. Und er habe einen grossen Freundeskreis, den er aktiv pflege. «Von meinen Altersgenossen sitzen etliche daheim und warten, bis sich jemand meldet.» Er mache das anders, sagt Walter Schütz.
Möglichst lange selbstständig sein
Walter Schütz heisst eigentlich anders. Aber er fühlte sich nicht wohl dabei, hier mit seinem richtigen Namen aufzutreten. Deshalb der Deal: Wir geben ihm ein Pseudonym, dafür erzählt er alles. «Seit einem Jahr treffe ich mich oft mit einer jungen Freundin, die noch keine 40 ist», sagt er und kann ein verlegenes Lachen nicht verkneifen.
Auf Hilfe im Alltag ist er nicht angewiesen. Er müsse keine Pillen nehmen und habe keinen Bluthochdruck. «Aber ich fahre täglich Fahrrad. 10 bis 20 Kilometer, je nach Lust und Laune.»
Er wolle noch so lange selbstständig alleine wohnen, wie es geht. Aber wer kümmert sich um ihn, wenn es nicht mehr geht? «Vielleicht das Sozialamt?», fragt er zurück – und fügt hinzu: «Ich weiss es nicht.»
Problem mit kinderlosen Alten spitzt sich zu
So wie Walter Schütz geht es in der Schweiz schätzungsweise rund 150'000 Menschen. Sie sind betagt und haben keine nahen Angehörigen, die sich um sie kümmern könnten.
In den nächsten Jahren werde diese Zahl deutlich steigen, sagt Carlo Knöpfel, Professor an der Hochschule für soziale Arbeit der Fachhochschule Nordwestschweiz (FHNW). Einerseits wegen der demografischen Entwicklung: «Viele ältere Leute, welche heute noch nicht betreuungsbedürftig sind, sind ohne Kinder unterwegs», so Knöpfel.
Ohne Kinder unterwegs zu sein, kann auch bedeuten, dass die eigenen Kinder weit weg wohnen. Denn die Beziehung zwischen den Generationen verändert sich. Während es früher oft normal war, dass die Kinder in der gleichen Region wie die Eltern lebten, sind die Menschen heute viel globaler unterwegs. Sie können später ihre Eltern im Alter nicht mehr ohne Weiteres unterstützen.
Auch die Vorstellungen der Pflegebedürftigen von Morgen – die Babyboomer – haben einen Einfluss. «Befragungen zeigen, dass Babyboomer tendenziell weniger Erwartungen an ihre Kinder haben, was die Betreuung im Alter angeht.»
Kinderlose Alte fallen durch die Maschen
Das Pflege- und Betreuungssystem der Schweiz baut darauf auf, dass sich Kinder um ihre betagten Eltern kümmern. Medizinische Pflege ist zwar von der Krankenkasse gedeckt – alles darüber hinaus müssen in der Regel Angehörige leisten.
Dabei gehe es um ganz alltägliche Sachen, sagt Carlo Knöpfel: «Wer unterstützt mich beim Einkaufen, wer begleitet mich auf ein Amt, wer hilft mir mit den Finanzen? Wer hört mir zu, wenn es mir mal nicht so gut geht? Oder wer schaut zu meinem Hund, wenn ich ins Spital gehen muss?»
Diese Art der Betreuung würden heute immer noch zum grössten Teil die nächsten Angehörigen übernehmen, so Knöpfel. «Wenn die nicht da sind, entsteht ein Loch.»
Mit Doodle die Kinderlücke füllen
Dass es plötzlich schnell gehen kann, dass man von heute auf morgen auf Unterstützung angewiesen sein kann, hat Patricia Schnyder kürzlich erfahren. Die 71-Jährige ist seit zehn Jahren verwitwet, Kinder hat sie keine.
Nach einem Sturz von der Leiter konnte sie ihr Bein während neun Wochen nicht belasten, war am Anfang sogar im Rollstuhl. Patricia Schnyder musste sich eine professionelle Haushaltshilfe organisieren. Für die letzten zwei Wochen ihrer Schonfrist hat sie ihr Umfeld aktiviert. «Ich habe ein Besuchs-Doodle gemacht, so kam jeden Tag jemand vorbei.»
Die Menschen aus ihrem Umfeld kamen zu Besuch, halfen beim Einkaufen, im Garten oder tranken Kaffee mit ihr. «Diese Aktion ist sehr gut angekommen. Die klare Anfrage erleichterte es vielen, mich zu unterstützen», so Patricia Schnyder.
Freunde, Bekannte und Nachbarn seien für sie wichtige Kontakte – wohl auch, weil sie keine Kinder habe, sagt sie.
Studie über alte Menschen ohne Kinder
Erstmals wurde in der Schweiz untersucht, wie es älteren Menschen geht, die nicht auf familiäre Unterstützung zählen können. Carlo Knöpfel von der FHNW hat mit seinem Team 30 Betroffene aus der ganzen Schweiz befragt. Dank der Auswertung liegen nun erstmals detaillierte Einblicke in die Lebensrealität älterer Menschen ohne betreuende Angehörige vor.
Die Frage nach externer Unterstützung ist häufig auch eine Frage des Geldes. «Da gibt es eine grosse Ungleichheit. Vulnerable ältere Menschen mit wenig Geld haben heute Schwierigkeiten, sich entsprechende Hilfe und Betreuung zu leisten», sagt Carlo Knöpfel von der FHNW.
Ein weiterer Grund, warum ältere Menschen keine Unterstützung erhalten, ist, dass sie gar nicht über das Hilfsangebot informiert sind. Da die meisten Menschen früher oder später auf Hilfe und Betreuung angewiesen sind, müsste hier viel mehr Aufklärungsarbeit geleistet werden, sagt Carlo Knöpfel. «Eine Idee wäre, dass die Wohngemeinden allen Bürgerinnen und Bürgern zum 75. Geburtstag einen Infobrief senden.»
Aktivere Sozialarbeit für Senioren
Damit möglichst viele ältere Menschen ohne familiäre Unterstützung von bestehenden Unterstützungsangeboten wissen und profitieren können, müsse in diesem Bereich auch die Sozialarbeit aktiver sein, so Knöpfel. Stichwort: aufsuchende Sozialarbeit. Etwas, das bisher eher bei Jugendlichen eingesetzt wird.
Das werde künftig auch bei älteren Menschen vermehrt nötig, sagt Carlo Knöpfel. «Vulnerable ältere Menschen ohne viele Kontakte müssen irgendwie erreicht werden.» So könnten sie über bestehende Hilfs- und Betreuungsangebote, zum Beispiel von Pro Senectute oder dem Schweizerischen Roten Kreuz, informiert werden.
Die Finanzen regeln
Patricia Schnyder ist jetzt noch nicht auf Hilfe angewiesen. Schaut die 71-Jährige aber in die Zukunft, sind einige Fragen ungeklärt. «Zum Beispiel beim Thema Finanzen wäre es schön, wenn ein Sohn oder eine Tochter da wäre, die das einmal für mich übernehmen könnte.»
Sie ist sich bewusst, dass sie ihr weiteres Leben wohl früher als andere regeln und organisieren muss. «Ich muss eine Institution aufsuchen oder Hilfe holen, bevor ich nicht mehr klar bin.»
Bei ihrem Vater war das anders. Dieser regelte zum Beispiel seine Finanzen zu lange alleine. «Er hatte plötzlich Fünfliber und Fünfzigernoten verwechselt – und Geld verteilt. Danach haben wir Kinder seine Finanzen für ihn gemacht.»
Die ersten leisen Befürchtungen
Auch Walter Schütz weiss, dass es schnell gehen kann und man plötzlich auf grosse Hilfe angewiesen ist. Vor fünf Jahren war seine Frau wegen eines Hirntumors nach kurzer Zeit nicht mehr selbstständig. Er musste seine Frau praktisch rund um die Uhr betreuen. «Ich musste ihr das Essen eingeben, in der Nacht konnte sie ihren Stuhlgang nicht mehr kontrollieren.»
Als es nicht mehr ging, kam sie ins Spital, später in ein Heim. Kurz darauf ist sie gestorben. Das alles stimmt Walter Schütz nachdenklich. «Bis in meine Wohnung hoch sind es vier Treppen. Was, wenn ich mit dem Fahrrad dermassen stürze, dass ich hier nicht mehr hochkomme?» Er überlege sich in letzter Zeit öfters, ob er sich eine kleinere, altersgerechte Wohnung suchen sollte.
Doch der Gedanke, bereits jetzt etwas zu verändert, löst bei dem 80-Jährigen auch Ängste aus. «Kürzlich habe ich meine Büchergestelle ausgemessen – 96 Meter Bücher hat es in meiner Wohnung. An denen hänge ich halt schon.»
Politik ist gefordert
Walter Schütz und Patricia Schnyder haben gemeinsam, dass sie beide noch nicht auf Betreuung angewiesen sind. Falls sich das ändert, könnten sich beide externe Unterstützung leisten. Für ältere Menschen mit wenig Geld brauche es hier jedoch neue Lösungen, sagt Carlo Knöpfel von der FHNW.
Auf Bundesebene ist ein Gesetzesentwurf in der Vernehmlassung, der Ergänzungsleitungen für betreutes Wohnen vorsieht. So sollen Menschen mit wenig Geld vermehrt Zugang zu solchen Angeboten erhalten. Auch auf Kantons- und Gemeindeebene gibt es Bestrebungen, hier neue Finanzierungsansätze zu finden. «Das Problem ist erkannt. Bei all diesen Vorhaben gibt es aktuell wenig Gegenwind», sagt Knöpfel.
Was die Studie, aber auch unsere Beispiele von Patricia Schnyder und Walter Schütz, zeigen: Ein funktionierendes soziales Netzwerk ist von zentraler Bedeutung. Freunde und Bekannte sind für alleinstehende ältere Menschen ohne betreuende Kinder wichtig.
Carlo Knöpfel warnt jedoch davor, dass es sich bei diesen sozialen Netzwerken meist um Menschen in sehr ähnlichen Lebenssituationen und ähnlichem Alter handelt. «Die Belastbarkeit eines solchen sozialen Netzes hat klare Grenzen. Es kann die Angehörigen oft nicht ersetzen. Darum braucht es auch professionelle Angebote.»
Die Ersatztochter
Der 80-jährige Walter Schütz sieht das anders. Er sei genügend vernetzt: «Ich bin unter anderem mit einem Arzt befreundet, der vier Jahre jünger ist als ich. Ich habe viele Bekannte oder eben meine junge Freundin.»
Diese Freundin hat Walter Schütz im Gespräch mehrmals erwähnt. Darum die Frage: Ist das eine Freundin, oder eine Ersatztochter? Walter Schütz, wohl etwas überrascht, sagt: «Das ist eine gute Frage.» Dann folgt eine Denkpause von geschlagenen acht Sekunden. Er holt Luft: «Vielleicht beides.»