«Das Gemeindeleben leidet enorm, wenn der Pfarrer fehlt», sagt Theresa Schütz. Die 34-Jährige ist seit einigen Monaten Präsidentin der reformierten Kirchgemeinde Tamins-Bonaduz-Rhäzüns im Bündner Rheintal. Sie weiss, wovon sie spricht: Vier Jahre lang suchte die Gemeinde einen Pfarrer und zerbrach beinahe daran. Im November 2023 trat der gesamte Vorstand zurück – die Kraft reichte nicht mehr.
«Ich erinnere mich gut an diese Kirchgemeindeversammlung», erzählt Theresa Schütz, damals einfaches und nicht sehr aktives Kirchenmitglied. «Ich habe bemerkt, dass die Kirche mir am Herzen liegt und dass ich mich jetzt engagieren muss.»
Nicht nur Angebote für Senioren und Kinder
Die Kirchgemeinde ist nicht mehr handlungsfähig, die Landeskirche setzt einen Kurator ein. Zwangsverwaltung, sozusagen. Doch die Krise bedeutet nicht Stillstand, sondern Neuanfang. Es bildet sich eine Gruppe, die die Kirche neu denken will. Mit dabei: Theresa Schütz und Rahel Wildbolz, heute ebenfalls im Vorstand der Kirchgemeinde.
Die beiden organisieren einen Workshop. Von den 1500 Kirchenmitglieder kommen 50, um gemeinsam über die Zukunft der Kirche nachzudenken. «Einige ältere Mitglieder haben die Kirche so skizziert, wie sie sie kennen», erzählt Rahel Wildbolz. «Aber die Mehrheit hat vieles hinterfragt, etwa den Gottesdienst am Sonntagmorgen.» Ein Angebot, das auch die beiden Vorstandsfrauen nicht anspricht.
«Jeden Sonntagmorgen in die Kirche sitzen, das passt nicht zum Familienprogramm», findet Rahel Wildbolz. Und nicht in die heutige Zeit: «Wir sitzen schon die ganze Woche, da ist am Wochenende – wenn die Sonne scheint – Bewegung nötig. Raus in die Natur, das ist auch Gottesdienst.» Das Angebot der Kirche habe sich vor allem an Seniorinnen und Senioren und Kinder gerichtet. «Für Leute wie uns gab es praktisch nichts.»
Dialog statt Monolog
Das störte nicht nur Schütz und Wildbolz. Auch die Workshopbesucher wünschten sich eine andere Kirche: Dialog statt Monolog, Partizipation statt Passivität, Gemeinschaft statt Lehre. Kirche von unten – das war das Stichwort.
Daraus entwickelten die Vorstandsfrauen ein neues Programm, etwa einen Spaghettiplausch mit theologischem Input am Sonntagabend. Meditation in der Kirche. Oder gemeinsames Singen. Keine weltbewegend neuen Ideen, aber in der ländlichen Kirchgemeinde bedeuten sie Wandel. Und siehe da: Auch ein neuer Pfarrer ist gefunden. Diese «Kirche von unten» hat ihn angesprochen. Im Mai tritt er seine Stelle an.
Der Versuch, Nachwuchs auszubilden
Der Personalmangel in der Kirche zeichnet sich schon seit Jahrzehnten ab. Obwohl die Mitgliederzahlen sinken und Gemeinden fusionieren, gibt es zu wenig Pfarrerinnen, Religionslehrer, Seelsorgende – und zwar in allen Landeskirchen. Denn der Mitgliederschwund und die Pensionierungswelle verlaufen nicht parallel.
Die Kirchen versuchen, Nachwuchs auszubilden. Die Reformierten kennen etwa einen Quereinsteigerstudiengang, für den sie gerade die Hürden gesenkt haben. Sie denken nun darüber nach, Akademiker ohne Theologiestudium für die Aufgaben eines Pfarrers, einer Pfarrerin einzusetzen.
In der katholischen Kirche gab es in den letzten Jahren diverse Initiativen, um neues Personal zu generieren. Leute aus der Wirtschaft zu rekrutieren, Religionslehrerinnen zu Seelsorgerinnen weiterzubilden, Laien auszubilden für die Führung von Freiwilligen.
Es ist ein grosses Flickwerk – viele Anbieter, viele verschiedenen Ausbildungen, die von wenigen genutzt werden. Stets steht die Frage im Raum: Macht es Sinn, neue Leute auszubilden, wenn die Mitgliederzahlen sinken und die Kirche sich das bestehende Angebot bald nicht mehr leisten kann?
Weniger Gottesdienste, mehr Mitgestaltung
Sicher ist: Die Situation ist unterdessen so akut, dass sie die Kirchen zum Wandel zwingt. Von unten, wie in Tamins-Bonaduz-Rhäzüns. Oder dann von oben, wie etwa in der katholischen Kirche im Kanton Thurgau und dessen Projekt «dual kongruent». Hier arbeiten Landeskirche und Bistum zusammen.
Die Idee: Sogenannte Netzwerkerinnen und Netzwerker, eine Art kirchliche Sozialarbeiter, sollen in den Gemeinden das Gesicht der Kirche sein – auch sie ohne theologische Ausbildung. Für die Messe, die Seelsorge oder Taufen, Hochzeiten und Beerdigungen werden dann Seelsorgende hinzugezogen, die für einen grösseren Raum zuständig sind. Denn genügend Seelsorgende für jede Gemeinde finden sich schon lange nicht mehr.
Auch in diesem Modell geht es darum, Kirche von unten entstehen zu lassen und diejenigen Angebote zu fördern, die vor Ort gewünscht sind. Und andere, die nur wenige nutzen – wie etwa den Sonntagsgottesdienst – zu reduzieren. Mit dem Risiko, die treusten Kirchenmitglieder vor den Kopf zu stossen.
«Sinkendes Schiff» retten
Wenn die neuen Ideen die Kirchen tatsächlich beleben können und Kirchenmitglieder ansprechen, die heute höchsten passiv mit dabei sind, dann kann dieser akute Personalmangel auch eine Chance für die Kirchen sein. Dafür sei es höchste Zeit, findet Rahel Wildbolz von der reformierten Kirchgemeinde Tamins-Bonaduz-Rhäzüns. «Die Kirche ist ein sinkendes Schiff, wir müssen jetzt Gas geben», sagt sie.
Es sei nachvollziehbar, dass sich für dieses sinkende Schiff zurzeit weder Kapitäne noch Passagiere fänden. «Hier den Schluss zu ziehen, dass die Leute nicht mehr gerne Schiff fahren, ist aber falsch. Wir müssen das Schiff nur umbauen – oder besser: reformieren.»