1970 gehörten über 95 Prozent der Schweizer Bevölkerung einer der beiden grossen Landeskirchen an. 2021 waren es noch gut die Hälfte – Tendenz sinkend. Woran liegt das? Das wollte auch die SRF-Community wissen.
Viele Vertreterinnen und Vertreter der Religionssoziologie sehen den Grund dafür in der «Säkularisierungsthese»: Die Moderne stehe in Spannung zur Religion. Deshalb würden Religionen zunehmend an Bedeutung verlieren.
Tibeter in den Alpen
Gleichzeitig wurde die westliche Religionslandschaft in den letzten Jahrzehnten vielfältiger: Durch die Migration kamen andere Religionen in den Westen. So etwa ab den 1960ern der tibetische Buddhismus aufgrund des Tibet-China-Konflikts oder ab den 1990ern vermehrt muslimische Menschen, die vor den Balkankriegen nach Westeuropa flüchteten.
Zudem zeigt die Religionssoziologie, dass Religion und Glaube zunehmend individuell gestaltet werden. Eine Person etwa macht Yoga, geht eine Woche ins Schweigekloster und interessiert sich gleichzeitig für Sufismus.
Keine Lebensbegleiterin mehr
Diese Veränderungen beeinflussen auch die christlichen Kirchen: War es für heutige Grosseltern üblich, einer Kirchgemeinde zuzugehören, ist das heute erklärungsbedürftiger geworden. Menschen müssen sich bewusster entscheiden, ob sie dazugehören wollen.
Die Entscheidung fällt ob all der Möglichkeiten und aufgrund der Missbrauchsskandale vor allem in der römisch-katholischen Kirche zunehmend negativ aus. Die Kirche scheint nicht mehr automatisch eine Lebensbegleiterin zu sein.
Die Ethnologin Jacqueline Grigo spricht von einer «Säkularisierungserwartung»: Menschen würden Religion nicht mehr automatisch im öffentlichen Raum erwarten, sind gar davon irritiert. Die Religionszugehörigkeit werde stärker als «Privatsache» wahrgenommen.
Entsprechend sind auch im öffentlichen Raum immer weniger religiöse Symbole zu sehen. Die Kruzifixe in den staatlichen Schulzimmern wurden abgehängt und religiöse Kleidung fällt auf, egal ob Kippa oder Turban.
Immer weniger religiöse Bildung
Der Religionssoziologe Jörg Stolz und die Religionswissenschaftlerin Eva Bauman-Neuhaus untersuchten 2018, wie und wo die Traditionen christlicher Religionen in der Schweiz abbrechen. Die Studie zeigt unter anderem, dass jede Generation etwas weniger religiös ist als die vorherige.
Traditionsabbrüche passieren demnach weniger innerhalb einzelner Biografien, sondern Eltern geben ihren Kindern weniger religiöse Bildung mit auf den Lebensweg. Sind die Kinder erwachsen und haben selbst wieder Kinder, wird es noch weniger.
Das spirituelle Bedürfnis bleibt
Die Säkularisierungsthese ist in der Religionssoziologie jedoch umstritten. Manche sprechen statt von einem Bedeutungsverlust eher von einem Umbruch der Religionslandschaft. Das spirituelle Bedürfnis der Menschen existiere demnach weiterhin. Man suche aber nach anderen Formen, um dieses zu erfüllen.
So fühlen sich beispielsweise in der Schweiz viele Menschen dem Buddhismus zugehörig, ohne sich in einer buddhistischen Organisation zu engagieren. Ähnliches sei fürs westliche Christentum anzunehmen: Menschen christlichen Glaubens finden sich in Gemeinschaften, die zu ihrem Leben und in ihre Zeit passen, unabhängig einer Institution.
Ob hierzulande die grossen Landeskirchen Teil dieses Wandels sind oder ob tatsächlich eine Epoche zu Ende geht, wird sich erst noch zeigen.