«Pinguin» wird der römisch-katholischen Nonne auf der Strasse hinterhergerufen. Der Sikh mit Turban wird am Flughafen mit einem Taliban verwechselt. Dem orthodoxen Juden wird beim Eishockey-Match ein Bier über den Kopf geleert. Die Muslimin mit Kopftuch findet partout keine Wohnung.
Von derartigen Erfahrungen berichten fast alle Menschen in der Schweiz, die religiöse Kleidung tragen. Mit einer Ausnahme, sagt Jacqueline Grigo, Forscherin am Religionswissenschaftlichen Institut der Universität Zürich: Einem buddhistischen Mönch stehen die Menschen sehr positiv gegenüber.
Religion ein Auslaufmodell?
Jacqueline Grigo hat ihre Doktorarbeit zum Thema religiöse Kleidung geschrieben. Sie bestätigt: Religiöse Kleidung irritiert – gerade in europäischen Gesellschaften, die sich selbst als säkular sehen.
«In Europa gibt es seit Jahrzehnten eine sogenannte Säkularisierungserwartung», erklärt Grigo. Demnach sei die Religion ein Auslaufmodell. Sie werde demnächst verschwinden oder allenfalls noch im Privaten gelebt.
«In dieser säkularistischen Vorstellung steht die Religion im Widerspruch zu einer aufgeklärten, modernen Gesellschaft», sagt sie. Gerade wegen dieses Vorurteils, Religion sei rückständig, irritiert auch religiöse Kleidung, als zur Schau gestellte Identifikation mit einer Religion.
Mit Kopftuch in die Disco
Die erwartete Säkularisierung ist bisher nicht eingetreten. Religion ist in den letzten Jahrzehnten auch nicht aus den europäischen Gesellschaften verschwunden – im Gegenteil.
Durch die Zuwanderung sind die Gesellschaften diverser geworden, auch in religiöser Hinsicht. Zudem haben die Medien die Religion für sich entdeckt. Sie wirkt so präsenter, als sie vielleicht ist.
Menschen, die religiöse Kleidung tragen, spüren all diese Einflüsse. Sie würden oft als frommer, traditioneller, gläubiger gelesen als sie tatsächlich sind, sagt Jacqueline Grigo.
Das führe wiederum dazu, dass sich der Sikh mit Turban, die Muslimin mit Kopftuch oder die orthodoxe Jüdin mit Perücke intensiver mit der eigenen Religion beschäftigen. Die einen radikalisieren sich dabei, die anderen versuchen, die Klischees zu durchbrechen, mit denen sie konfrontiert werden.
«Ich habe eine Muslimin getroffen, die extra mit Kopftuch an Orte ging, an denen man sie nicht erwartet hätte, in die Disco zum Beispiel», erzählt Jacqueline Grigo.
Missbrauch religiöser Kleidung
Wie verhält es sich aber mit dem oft gehörten Vorwurf, religiöse Kleidung diene gerade bei Frauen dazu, ihren Körper zu kontrollieren? Nicht umsonst haben sich beispielsweise die Proteste im Iran an der Kopftuchfrage entzündet.
«Es gibt Untersuchungen, die zeigen: Je strenggläubiger eine religiöse Tradition, desto stärker die Kontrolle des weiblichen Körpers, der weiblichen Sexualität», sagt Jacqueline Grigo. Diese Tendenz gäbe es in verschiedensten Religionen und die Kleidung spiele dabei eine wichtige Rolle.
Grigo betont allerdings, dass diese Kontrolle des weiblichen Körpers nicht der Religion vorbehalten sei: «Die gibt es in den verschiedensten Lebensbereichen.»
Kreativer Umgang mit Vorschriften
Religiöse Kleidung kann also dazu dienen, Kontrolle auszuüben. Gleichzeitig dient sie den Trägerinnen und Trägern als Ausdruck der Identität, ihrer Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft, aber auch ihrer individuellen Persönlichkeit.
«Das modische Interesse ist auch bei religiöser Kleidung oft sehr gross», sagt die Religionswissenschaftlerin. «Ich habe zum Beispiel jüdisch-orthodoxe Frauen getroffen, die experimentierten und die Grenzen der Kleidervorschriften ausloteten.»
Es gibt bei religiöser Kleidung also durchaus Raum für Individualität. «Und der wird fröhlich ausgenutzt», sagt Ethnologin Jacqueline Grigo.