Jeden Morgen bindet Navpreet Kaur Singh ihren Turban. Zehn Minuten dauert es, bis die 21-Jährige die beiden 4,5 Meter langen Tücher um den Kopf und die langen Haare gewickelt hat. Nur zehn Minuten!
«Beim ersten Mal habe ich eine Dreiviertelstunde gebraucht», erinnert sich Navpreet Kaur Singh. 13 Wochen habe sie üben müssen, bis sie die Technik beherrschte. Zu diesem Zeitpunkt war sie 16 Jahre alt.
Der Turban dient unter anderem dem Schutz der Haare. Denn Sikhs schneiden sie sich ihr Leben lang nicht. «Aus Respekt vor Gottes Schöpfung», erzählt Navpreet Kaur Singh. Ihre Haare reichen ihr bis zu den Oberschenkeln.
Viel Pflege bräuchten sie nicht. «Dadurch, dass ich sie zusammengebunden im Dutt unter dem Turban trage, sind sie sehr gesund», sagt sie.
Turban für sie und ihn
Das Gebot, die Haare nicht zu schneiden, gilt auch für Sikh-Männer. Traditionell sind sie es, die Turban tragen. Navpreet ist eine der wenigen Sikh-Frauen in der Schweiz mit einem «Dumalla». Dabei sei der Turban im Sikhismus auch für Frauen vorgesehen, sagt sie in breitem St. Galler Dialekt. «Seit Tag eins haben Männer und Frauen bei uns Sikhs dieselben Rechte. Das war schon unserem ersten Guru wichtig.»
In der Anfangszeit des Sikhismus hätten Frauen auch noch einen Turban getragen. Diese Tradition sei aber mit der Zeit verschwunden.
Erst in den letzten Jahrzehnten haben Frauen wieder begonnen, die gewickelte Kopfbedeckung für sich zu entdecken – vor allem in westlichen Ländern mit grossen Sikh-Gemeinschaften wie Kanada oder Grossbritannien.
In der Schweiz gibt es nicht einmal zehn Frauen, die einen Turban tragen. Navpreet Kaur Sing findet deshalb: «Frauen, wacht auf!» Die Gleichberechtigung sei das A und O des Sikhismus. «Ich finde, das muss auch im Alltag gelebt werden.»
Mehr Selbstvertrauen dank Turban
Vorbilder für starke Sikh-Frauen mit Turban findet Navpreet Kaur Singh in der Geschichte der Sikh. Mai Bhago zum Beispiel, die im 18. Jahrhundert mit Schwert und Turban die Sikh-Religion gegen die Truppen des Moghul-Herrschers verteidigte, der den Islam verbreiten und den Sikhismus unterbinden wollte. Bilder zeigen Mai Bhago meist zu Pferd und mit wehendem Turbantuch.
Die 21-jährige Navpreet Kaur Singh möchte auch ein Vorbild sein. «Ich finde, ich habe die Verantwortung, zum Turban Auskunft zu geben. Auch im Tempel, anderen Sikhs gegenüber.» Den Turban zu tragen, habe sie in ihrer Persönlichkeit gestärkt. «Ich kann besser hinstehen und meine Meinung vertreten.»
Die junge Frau nimmt für die Sikhs auch am Runden Tisch der Religionen in St. Gallen teil. «Ich habe dadurch viel Anerkennung erhalten», erzählt sie. «Die Leute sehen von Weitem, dass ich eine Sikh bin. Ein schönes, heimeliges Gefühl.»
Von Anfang an gleichberechtigt
Für Navpreet Kaur Singh ist ihr Turban ein öffentliches Zeichen der Zugehörigkeit, das ihr Selbstbewusstsein und Selbstwertgefühl verleiht. Ihn zu tragen, ist ein Bekenntnis zu ihrer Sikh-Religion und zur Gleichberechtigung, die im Zentrum der Religion steht. Doch wie sehr wird die Gleichberechtigung tatsächlich gelebt?
Es gibt nur eine Kaste und das ist das Menschsein.
«Die Gleichberechtigung steht am Anfang der Geschichte der Sikhs», sagt Christoph Peter Baumann, Religionswissenschaftler und Sikh-Experte. Vor rund 550 Jahren sprach sich bereits der erste Guru der Sikhs vehement gegen das Kastenwesen aus, das Menschen nach ihrer Geburt hierarchisch in Gruppen einteilt.
«Es gibt den Sikh-Spruch: Es gibt nur eine Kaste und das ist das Menschsein», sagt Baumann. Das zeige sich etwa im höchsten Heiligtum der Sikhs, im goldenen Tempel von Amritsar in Indien.
«Der Tempel hat vier Eingänge. Sie symbolisieren: Alle Menschen sind willkommen, egal woher sie kommen, egal welcher Religion sie angehören.» Im goldenen Tempel erhalten auch alle Menschen zu essen – so, wie in allen Sikh-Tempeln, auch in der Schweiz. Gekocht wird vegetarisch, damit möglichst viele Menschen mitessen können.
Die Geschichte im Namen
Die Nachnamen der Sikhs zeugen noch heute vom Kampf gegen Ungleichheit und Kastenwesen. Denn die Namen in Indien weisen traditionell auf die Zugehörigkeit zu einer Kaste, also einer sozialen Schicht, hin.
Um dem entgegenzuwirken, tragen Sikh-Männer den Nachnamen Singh (Löwe), Sikh-Frauen den Nachnamen Kaur (Prinz). Dass Navpreet auch Singh heisst, ist dem Schweizer Namensrecht geschuldet.
Im Gottesdienst herrsche ebenfalls grundsätzlich Gleichberechtigung, sagt Christoph Peter Baumann. So können Frauen «Granthi» (Priesterinnen) werden, aus dem heiligen Buch vorlesen oder dem Tempel vorstehen.
In der Praxis machen das jedoch nur wenige Frauen. Denn auch unter den Sikhs herrschen noch traditionelle Familien- und Rollenmodelle vor. «Sikhs sind halt auch nur Menschen», meint Christoph Peter Baumann mit einem Lächeln.
Gekommen, um zu bleiben
Die Gleichberechtigung, in Theorie und Praxis, ist auch Biramandeep Singh wichtig. Für den Kommunikationsstudenten aus Bern ist der Turban zusätzlich ein Teil seiner Familiengeschichte. «Mein Vater und mein Grossvater mussten wegen der Religion ihre Heimat verlassen.»
Mein Turban ist auch ein Zeichen, dass wir da sind und nicht so schnell wieder gehen.
Der Grossvater, mit seinem Turban klar als Sikh erkennbar, floh nach dem Ende der britischen Kolonialherrschaft aus dem mehrheitlich muslimischen Pakistan nach Indien. Der Vater wanderte in die Schweiz aus, weil er in den 1980er-Jahren als Sikh mit Turban in Indien keine Zukunft mehr sah.
Damals eskalierten die Spannungen zwischen den Sikhs im Norden Indiens und der hinduistischen Zentralregierung in einen gewaltsamen Konflikt. Diese Fluchtgeschichten hallen nach. «Mein Turban ist auch ein Zeichen, dass wir da sind und nicht so schnell wieder gehen», sagt Biramandeep Singh.
Modisches Statement
Biramandeep trägt den Turban mit Stolz – und mit viel modischem Bewusstsein. Zwischen 30 und 40 Turbantücher in allen Farben hängen in seinem Schrank. Fotos auf seinem Instagramprofil zeigen ihn mit Turban in den verschiedensten Farben, stets passend zum Rest der Kleidung – sei es beim Wandern, in Gummistiefeln am Open Air St. Gallen oder in den Ferien.
Zum Interview kommt der 29-Jährige mit Socken, die farblich perfekt zum rosa Turban passen. Der Turban als modisches Statement also? «Ich verwende ihn so», sagt Biramandeep Singh.
Doch der Turban ist natürlich noch viel mehr. Auch bei Biramandeep schützt er die Haare, die ihm bis zur Mitte des Rückens reichen. «Meine Eltern haben mir beigebracht, dass wir die Haare nicht schneiden.»
Biramandeep ist in einem religiösen Elternhaus aufgewachsen: Sonntags ging es in den Tempel zum Gottesdienst, Vater und Mutter beteten morgens und abends. «Das haben wir mitgekriegt, doch sie haben uns nie zu etwas gezwungen», erzählt er.
Auf dem Weg zur spirituellen Reife
Als Jugendlicher trug Biramandeep ein Tuch über dem Dutt, eine Art «Turban light», genannt Patka. Mit 20, nach der Matura, entschied er sich für den richtigen Turban. «Die Matura war der richtige Moment, der Abschluss eines Kapitels im Leben, der Beginn eines neuen Lebensabschnitts.»
Bei den Sikhs lässt man sich taufen, wenn man bereit ist. Bei mir ist das noch nicht der Fall.
Bevor sich Biramandeep Singh für den Turban entschied, hatte er sich vertieft mit seiner Religion auseinandergesetzt. «Vieles habe ich zwar vorher schon mitbekommen, aber nicht bewusst», erzählt er. Doch die Beschäftigung mit der Religion zeigte ihm: Er steht hinter den Werten des Sikhismus. «Die Gleichberechtigung. Die Unterstützung derer, die weniger haben. Das stimmte für mich.»
Abgeschlossen ist Biramandeeps Weg, hin zu seiner Religion noch nicht. Im Gegensatz zu Navpreet Kaur Singh ist er nicht getauft. «Bei den Sikhs lässt man sich taufen, wenn man bereit ist. Bei mir ist das noch nicht der Fall.» Entscheidend sei die spirituelle Reife. «Es ist ein Prozess, mal schauen, ob er tatsächlich zur Taufe führt.»
Konfrontiert mit Vorurteilen
Biramandeep und Navpreet tragen den Turban mit grosser Selbstverständlichkeit – und berichten vor allem von positiven Erlebnissen. In ihrem Freundeskreis seien sie mit dem Turban akzeptiert. Von Fremden würden sie hin und wieder auf den Turban angesprochen, aber meist freundlich und interessiert. Auf Nachfrage erzählen beide aber auch von negativen Ereignissen.
Biramandeep Singh wurde als Jugendlicher als Taliban beschimpft. Oder aufgefordert, für ein Foto für ein ÖV-Abo den Turban abzulegen. Navpreet Kaur Singh berichtet zudem von Schwierigkeiten bei der Lehrstellensuche, Fragen nach dem Turban bei Bewerbungsgesprächen und davon, dass sie auf Hochdeutsch angesprochen wird, obwohl sie in der Schweiz aufgewachsen ist.
Zugehörigkeit mit oder ohne Turban
Mit derartigen Erlebnissen sind sie nicht allein, weiss Sikh-Experte Christoph Peter Baumann. Er kennt auch Geschichten von rigiden Kontrollen am Flughafen, weil die Polizistinnen und Polizisten den Turban nicht einordnen konnten. Oder von Sikhs, die mit dem Turban keine Stellen fanden, ihn deshalb ablegten und die Haare schnitten.
Für die Zugehörigkeit zur Gemeinschaft der Sikhs spielt dies keine Rolle. Nur etwa ein Drittel der Männer trägt in der Schweiz Turban. Doch persönlich ist eine derartige Entscheidung ein Einschnitt. «Ich kenne auch Fälle, in denen sich Männer die Haare wieder wachsen liessen und den Turban wieder aufsetzten», erzählt Christoph Peter Baumann. Bei einigen von ihnen blieb ein schlechtes Gefühl zurück, sich nicht an die Vorgaben der Sikh-Gurus gehalten zu haben.
Biramandeep Singh und Navpreet Kaur Singh blicken hingegen zuversichtlich in die Zukunft. «Dass ich mit 21 schon so lange Turban tragen darf und mich dabei weiterentwickelt habe, ist ein Geschenk Gottes», sagt Navpreet Kaur Singh.
Biramandeep Singh ergänzt: «Meine Eltern haben mir beigebracht, dass ich alles erreichen kann, das ich will. Danach lebe ich.»