«Not lehrt beten» heisst ein Sprichwort. Bei Ivan Machuzhak war es umgekehrt. Die Brutalität des Krieges habe ihn in eine emotionale Lage versetzt, in der er kaum hätte beten können, erzählt er. «Vor allem lange Gebete zu sprechen, das ging nicht», sagt der ukrainische Priester. «Wenn man Menschen trifft, die ihre Lieben verloren haben, dann stellt sich die Frage nach Gott.» Wo ist Gott mitten im Leid? Warum lässt er das zu? Es sei schwierig, Gott und den Krieg zusammenzudenken.
Brückenbauer ohne Feierabend
Seit Ausbruch des Kriegs Ende Februar ist Ivan Machuzhak fast ständig im Einsatz. Zu Beginn organisierte er Hilfstransporte in die Ukraine. Seitdem Geflüchtete hier leben, übersetzt er und vernetzt verschiedene Projekte und Organisationen.
Als Ukrainer, der mit einer Schweizerin verheiratet ist, kennt er beide Kulturen gut und sieht sich als Brückenbauer. Er hilft, wo er kann. Er feiert Messen und hält Friedensgebete ab. Feierabend gibt es für ihn derzeit nicht. «Die Soldaten können sich auch nicht aussuchen, ob sie kämpfen», sagt er.
Seit bald vier Monaten kommen Geflüchtete in die Schweiz – total knapp 55'000 waren es Anfang Juni, teilte das Staatssekretariat für Migration mit. Kirchen und christliche Netzwerke zeigten von Anfang an grosse Hilfsbereitschaft. Leerstehende Hotels wurden renoviert und Empfangsapéros organisiert. An vielen Orten entstanden Treffpunkte in Gemeindehäusern.
Christine Stark, Pfarrerin im Kanton Zürich, erzählt, wie wichtig den Geflüchteten der Austausch sei. Oft ginge es um alltäglich-praktische Fragen, wie: Woher bekomme ich eine SIM-Karte fürs Natel? Wie finde ich Arbeit?
Essensschlange als Treffpunkt
Auch Schwester Ariane Stocklin erlebte, dass der Krieg ihre Arbeit veränderte. Die römisch-katholische Schwester und Gassenarbeiterin leitet den Verein «incontro», der Menschen am Rande der Gesellschaft hilft. Es sind Menschen ohne Obdach und Arbeit. Menschen, die besonders unter der Coronakrise litten und jetzt eben viele Menschen aus der Ukraine.
Bei der allabendlichen Essensverteilung hinter dem Zürcher Hauptbahnhof kämen jeden Abend 300 bis 400 Menschen, so Ariane Stocklin. Davon ein Grossteil Ukrainerinnen und Ukrainer. «Hier ist ein wichtiger Treffpunkt entstanden, an dem Menschen sich austauschen», sagt sie.
Schwester Ariane spricht ein bisschen Russisch – vor 25 Jahren war sie zum ersten Mal in Russland. In den darauffolgenden Jahren reiste sie immer wieder in die Ukraine und nach Russland, insgesamt 16 Mal. Dort habe sie humanitäre Einsätze geleistet, erzählt sie neben den Gleisen, auf denen quietschend Züge entlangfahren.
Die Zeit habe sie sehr geprägt. Sie habe gelernt, dass helfen sehr einfach sein kann: «Ohne Infrastruktur, einfach mit dem Wägeli unterwegs sein und schauen, was die Menschen brauchen.» Sie habe mit den Menschen zusammengewohnt, gegessen, ihr Leben geteilt. Und sie habe gelernt, in die Stille zu gehen, um Kraft zu tanken.
Das tue sie bis heute. Ohne die Meditation am Morgen könnte sie die tägliche Gassenarbeit nicht durchhalten, sagt sie. Ihre Motivation bezieht sie aus der Bibel: «Jesus ging immer an die Ränder. Darum lebe auch ich mit Menschen am Rande.»
«Leid hört nicht auf – Liebe auch nicht»
Ivan Machuzhak hat in den letzten Monaten so manches Mal mit seinem Glauben gerungen. Ein Wendepunkt sei für ihn das Osterfest gewesen. Die orthodoxe Liturgie habe er dieses Mal besonders intensiv erlebt. Denn da habe das Leid seinen Platz, es werde nicht verdrängt – und schliesslich, am Ostersonntag, «in Hoffnung verwandelt».
Und dann war da die Nachricht eines Soldaten, der an seine Familie schrieb. Diese tröstete auch den ukrainischen Geistlichen, erzählt er: «Er schrieb: ‹In den Kämpfen, in der ganzen Bedrohung und Angst, fühle ich mich sicher unter der Kuppel eurer Gebete, die mich vor den Kugeln des Feindes schützt.›»
So habe er seine persönliche theologische Antwort gefunden: «Leid hat nicht aufgehört – aber Liebe hat auch nicht aufgehört. Gott ist da – auch mit den Leidenden.»