«Wenn es in meinem Kopf so still ist und ich einfach in einen Tunnel der Konzentration steigen kann, ist das eigenartig. Ich misstraue dieser Stille», erzählt Lisa Christ auf Instagram. Es ist Anfang 2024, sie hat gerade zum ersten Mal das Medikament Concerta genommen. Dreieinhalb Stunden konnte sie sich konzentrieren. Ungewohnt – und unheimlich für die Kabarettistin.
Ungläubig war sie, als sie die Diagnose ADHS bekam, sagt sie heute: «Ich dachte, die haben einen Fehler gemacht. Dass es meine eigene Schuld ist, dass ich das Zeug nicht auf die Reihe kriege.» Zeug – das sind Deadlines, Planungsfragen, das vergammelte Tupperware im Kühlschrank. Aber eben auch Angstzustände, depressive und sogar suizidale Phasen in Teenager-Jahren.
Lisa Christ, die Witzige. Die Scharfzüngige, die auf der Bühne gnadenlos soziale Missstände zur Sprache bringt, spricht auch über ADHS. Warum? «Vielleicht, weil es anderen Menschen helfen kann.»
Ein Trend in den sozialen Medien
Laut dem BAG sind fünf Prozent der Schweizer Bevölkerung – das sind knapp 500’000 Menschen – von ADHS betroffen. In den letzten Jahren haben die Diagnosen zugenommen. Mit der Zunahme der Diagnosen kommen auch die Zweifel: Kann es wirklich sein, dass so viele Menschen «plötzlich» an ADHS leiden?
Die «Popularität» der Krankheit ist auch in den sozialen Medien sichtbar. ADHS trendet: Es ist eines der beliebtesten Themen auf TikTok, stellt die Soziologin und Autorin Laura Wiesböck in «Digitale Diagnosen – Psychische Gesundheit als Social-Media-Trend» fest. In ihrem Buch analysiert sie, woher dieser Trend, über mentale Krankheiten in sozialen Medien zu sprechen, kommt – und wo die Chancen, aber auch die Risiken liegen.
Typisch ADHS?
«Fünf Zeichen, dass du betroffen bist, ohne es zu wissen» oder «Wie sich mein Gehirn mit ADHS anfühlt»: Solche Videos sind typisch für die sozialen Medien. Wie auch Schnelltests, die dort kursieren. Aufklärung, die unterhaltsam ist – und Betroffenen auf die Sprünge helfen kann.
Der Haken, so Wiesböck: «Immer mehr Nutzer und Nutzerinnen stellen sich selbst eine Diagnose, ohne medizinisches Fachpersonal zu konsultieren.» Insbesondere junge Frauen. Denn während Männer medizinisch behandelt werden, bleiben Symptome von Frauen statistisch eher unbemerkt. Sie passen sich an.
Das Gefühl, sich anpassen zu müssen, kennt auch Lisa Christ: «Ich habe in meinem Leben eigentlich immer alles fertiggebracht», sagt sie. Dieses Ich-schaffe-es-schon: Es sei ihr Glaubenssatz gewesen. Schwer abzulegen – auch mit der Diagnose.
Geteiltes Leid
Lisa Christ machte auch Selbsttests, bevor sie zur Psychiaterin ging. Dass Menschen – insbesondere Frauen – im Netz darüber redeten, hat ihr geholfen. Als sie ihre ADHS-Diagnose publik machte, waren die Reaktionen durchgehend positiv. Vor allem bei selbst Betroffenen hätte sie Zustimmung gespürt: «Man ist nicht alleine.»
Geteiltes Leid, halbes Leid: ein wichtiger Aspekt – vor allem auch in den sozialen Medien. Unterstützung, Austausch von persönlichen Erfahrungen, Strategien im Umgang mit den Symptomen teilen: soziale Medien haben ein pädagogisches Potenzial, das sieht auch Wiesböck.
Doch Erfahrungen machen noch keinen Experten, betont Wiesböck. Das heisst: Wer Kinder hat, ist noch keine Erziehungsexpertin. Wer eine schlimme Beziehung hatte, keine Paarexpertin. Austausch ist eine wichtige Stütze, klar. Eine Fachperson, die eine Diagnose stellen kann, ersetzt sie aber nicht. Zudem befürchtet Wiesböck einen Nachahmungseffekt: Influencer hätten eben Einfluss – auch darauf, dass man vielleicht eine Krankheit haben will.
«ADHS nimmt nicht zu»
Für Heiner Lachenmeier war ADHS auf jeden Fall keine Wunschdiagnose. Er hat sich mit «Händen und Füssen» gegen die Diagnose ADHS gewehrt: «Ich hatte die üblichen Vorurteile der Psychiater meiner Generation», sagt er. Ein Zappelphilipp sein? Nein, danke. Die Diagnose brachte ihm erst später Erleichterung.
Lachenmeier ist heute ADHS-Experte, hat eine eigene Praxis. Sieht er den Trend ADHS? «ADHS nimmt nicht zu. Es nimmt aber zu, dass man ADHS erkennt.»
Was er aber beobachtet: «Es kommen Leute in die Praxis, die sich zwei Jobs oder mehrere aufgehalst haben und sich ADHS diagnostizieren lassen wollen.» Er sage jeweils: Mit ADHS habe das nichts zu tun. Lachenmeier ahnt eine Überdiagnostizierung.
Ungenaue Diagnose
Mit Zahlen kann Heiner Lachenmeier seine Erfahrung nicht untermauern. Auch weil es schwierig sei festzustellen, was eine richtige und was eine falsche Diagnose sei.
«Psychiatrische Diagnosen sind in der Medizin die oberflächlichsten», erklärt der ADHS-Experte. Denn: Sie sind nur auf die Symptome ausgerichtet. Nicht auf die Ursache des Leids, wie sonst in der Medizin – und deshalb auch fehleranfällig.
Als selbst Betroffener und Experte nimmt Lachenmeier den Umgang mit der «Normvariante», wie er ADHS nennt, natürlich ernst. Dass man mehr über ADHS spricht und Menschen, die ADHS haben, eine Diagnose stellt, ist in seinem Interesse: «Je mehr man darüber weiss, desto eher kann man sinnvoll damit umgehen.»
Unwissenheit und schwere Folgen
Mehr Aufklärung wünscht sich auch Lisa Christ: «Viele denken, Menschen mit ADHS können sich einfach nicht konzentrieren», sagt sie. «Aber das ist eben nicht so.»
Das vereinfachte Bild von ADHS macht es den Leidenden schwerer. Wer ADHS hat, hat sehr unterschiedliche Symptome. Unaufmerksamkeit kann, muss aber kein Symptom sein.
Klar ist: Wenn ADHS unbehandelt bleibt, kann es für Betroffene und deren Angehörige schwere Folgen haben. Das betont auch Laura Wiesböck in ihrem Buch. Schule, Arbeit, soziale Beziehungen – aber auch das psychische Wohlbefinden können leiden. Ein Gefühl von Ablehnung, von Nichts-Wert-Sein könne ausgelöst werden. Eine Diagnose sowie eine Behandlung, so Wiesböck, könne Betroffene erleichtern.
Ausweg ADHS?
Aber die Diagnose ADHS könnte auch eine Erleichterung in der heutigen Gesellschaft sein: «Faul und undiszipliniert zu sein ist die Höchststrafe im neoliberalen Leitgedanken», sagt die Expertin Laura Wiesböck.
Bietet ADHS also einen Ausweg in einer Zeit, in der der Leistungsgedanke den Takt angibt und auf Produktivität und Effizienz pocht? Wiesböck will nicht Kritik an Menschen mit ADHS üben. Es ist eine Kritik an der Gesellschaft, in der eine Diagnose einen vielleicht durchschnaufen lässt.
Heiner Lachenmeier sieht es so: «Bei der Diagnose ADHS geht es nicht darum, Leistungsanforderungen zu entsprechen. Es geht darum zu schauen, wie jemand funktioniert – funktionieren kann.»
ADHS – eine Superkraft?
ADHS als vermeintlicher Schutzschild? Was ADHS sein kann – sein soll – darüber wird in den Medien gerade viel verhandelt. Viel diskutiert auch: die Superkraft. Bekannte Gesichter, die ihren Erfolg mit ADHS erklären, machen ADHS zur Krankheit der Kreativen.
Auch Heiner Lachenmeier hat ein Buch mit dem Titel «Mit ADHS erfolgreich im Beruf. So wandeln Sie vermeintliche Schwächen in Stärken um» geschrieben. Steckt da nicht auch die Superkraft drin?
Lachenmeier wiegelt ab: «Ich definiere Erfolg so, dass man dort sein kann, wo man sein will. Ich arbeite etwa als Concierge, weil ich Concierge sein will.» An den Rahmenbedingungen, so Lachenmeier, müsse die Gesellschaft arbeiten.
Auch Lisa Christ hatte lange das Bild, dass ADHS eine Superkraft sein soll. «Es braucht Zeit, um herauszufinden: Wo schränkt die Diagnose mich ein? Wo bringt sie mich weiter?» Eine Superkraft sei ADHS zwar. Aber auch «wahnsinnig anstrengend».