Systemkritik in Russland ist vielfältig. Weitverbreitet ist etwa die Praxis, Rossija – also Russland, Präsident oder Putin entgegen orthographischer Regel kleinzuschreiben.
Es ist eine Art der Selbstbehauptung und Entkoppelung vom übermächtigen, tyrannischen Staat. Die im Pariser Exil forschende Anthropologin Alexandra Arkhipova spricht von «Akten der Abtrennung», in denen «die Sprache die Zugehörigkeit zu einer Gesellschaft kappt». Eine Form des stillen Protests.
Mini-Protest mit Knetfiguren
Verbreitet sind auch kleine Knetfiguren auf Parkbänken, an Bushaltestellen oder auf Brückengeländern. Sie halten deutliche Antikriegsbotschaften auf kleinen Plakaten hoch, etwa «Stop Bloody Vladdy» – «Stoppt den blutigen Wladimir» oder «Stoppt das Töten von Kindern». Spielzeugfiguren ersetzen bei diesem Mini-Protest den Staatsbürger.
Auf Strassenlaternen kleben Verlustanzeigen für Hunde, die weggelaufen sind. Sie heissen alle «Zukunft» oder «Frieden».
Alexandra Arkhipova hat diese subversiven Protestformen in der Onlineausstellung «No Wobble» in Kooperation mit der Universität Bremen und dem Leibniz-Institut zusammengetragen.
«Нет вобле!» – «Nein zum Karpfen!»
Als populärstes Antikriegssymbol hat sich inzwischen der Karpfen etabliert. Im Dezember 2022 musste sich Alisa Klimentova im sibirischen Tjumen vor Gericht verantworten, weil sie auf den Bürgersteig ein «Нет в***е!» – «Net w***e» geschrieben hatte. Der streng verbotene Slogan lautet «Net woine» – «Nein zum Krieg».
Da Klimentova aber nur das W am Anfang und das e am Ende eines Wortes geschrieben hatte, konnte die Aktivistin vor Gericht überzeugend darlegen, dass sie nicht «Net woine» habe sagen wollen, sondern vielmehr «Net woble» – «Nein zum Karpfen». Sie möge diesen Fisch nicht, argumentierte Alisa Klimentova vor Gericht.
Daraufhin wurde Russland von einer Net-Woble-Welle erfasst. Songs, Memes, Kettenanhänger, Sticker oder Ohrringe – immer geht es um die Wobla, einen Fisch aus der Karpfenfamilie, den man getrocknet zum Bier isst. Tolstojs Roman «Krieg und Frieden» wurde natürlich umbenannt: in «Wobla und Frieden».
Drei Ballerinen, fünf Ballerinen
Ein weiteres weit verbreitetes Zeichen der Kommunikations-Guerilla sind Balletttänzerinnen. Sie spielen auf Tschaikowskis Ballett «Schwanensee» an, das immer im sowjetischen Fernsehen lief, wenn ein Parteisekretär gestorben war. Ein Code für die Hoffnung auf Putins Tod, erklärt Alexandra Arkhipova.
Die Ballerinen sind zudem, in der Formation von drei Ballerinen und fünf Ballerinen, eine Verschlüsselung für die Formel «Net woine» (drei Zeichen und fünf Zeichen).
«Schwanensee» heisst dann auch der grösste Song von Noize MC, dem legendären russischen Rapper Iwan Alexejew. Der Refrain fordert auf: «Lasst die Schwäne tanzen» – dazu fassen sich bei Konzerten alle überkreuz an den Händen und tanzen wie die Schwäne in Tschaikowskis Ballett. Rock den Widerstand!