Als mein Sohn mit dem Skateboard den Hügel runterfiel, sich das Knie aufschlug und weinte, sagte ein vorbeilaufender Mann: «Na, jetzt hör aber auf. Jungs weinen nicht.» Wie bitte? «Natürlich weinen Jungs», erwiderte ich. «Weinen tut gut».
Die Forschung hat herausgefunden, dass Weinen Stress abbaut, entspannt, den Körper von Giftstoffen reinigt und sogar hilft, Herzinfarkten vorzubeugen. Warum sollten Jungs und Männer sich das verkneifen?
Ich bin für die Demokratisierung der Tränen. Tränen für alle! Untersuchungen zeigen aber, dass Frauen im Schnitt etwa zwölfmal häufiger weinen als Männer. Doch das war nicht immer so.
Josef und andere «Heulsusen»
Im Alten Orient weinten alle Menschen: Männer, Frauen, Kinder. Im Gilgamesch-Epos, das in etwa aus dem 21. Jahrhundert vor Christus stammt, weint der Held Gilgamesch ausgiebig um seinen geliebten verstorbenen Freund Endiku. Auch in biblischen Texten ist Weinen nicht typisch weiblich.
In der sogenannten Josefserzählung im Alten Testament ist das Weinen besonders prominent. Es ist eine Geschichte von Hass, Verrat und schliesslich Versöhnung. Den Weg für die Versöhnung bereiten die Tränen.
Zunächst sind die Brüder wütend und neidisch auf den schönen Josef, den Lieblingssohn des Vaters. Noch dazu ist dieser ein Träumer. Sie wollen ihn erst töten, entscheiden sich dann aber, ihn zu verkaufen. So kommt Josef nach Ägypten.
Da er Träume deuten kann, schafft er es bis ganz nach oben. Er wird der zweite Mann im Land, gleich nach dem Pharao. Er sieht eine Hungersnot vorher und lagert das Korn für die mageren Jahre. Als die Hungersnot da ist, reisen Menschen aus den umliegenden Ländern nach Ägypten, um Getreide zu kaufen.
Auch Josefs Brüder kommen nach Ägypten und bitten ihn um Getreide. Der Anblick seiner Brüder, die er 20 Jahre lang nicht gesehen hat, berührt ihn.
Einer weint, alle kriegen es mit
Josef könnte sich an ihnen rächen, er hat die Position dazu. Stattdessen nähert er sich ihnen an. Er wird vom harten Herrscher zum weichen Bruder und weint so laut, «dass ganz Ägypten es hörte», heisst es in der Erzählung.
Jungs dürfen weinen. Das befreit.
Er gibt sich zu erkennen und spricht mit ihnen. Er markiert keine äussere Stärke. Gerade das Zulassen seiner Gefühle macht ihn zu einer starken Figur. Er lässt seine Rachewünsche hinter sich und wählt den Frieden.
Als das Weinen weiblich wurde
Wann wurde es denn uncool, zu weinen? Manche sagen: Bereits, als das Christentum unter griechisch-hellenistischem Einfluss entstand und der Stoizismus, also die Beherrschung der Gefühlswelt en vogue war. Andere Reflexionen über die Kulturgeschichte des Weinens rücken das entstehende Bürgertum in der Neuzeit in den Fokus.
Mit der Ausbildung der Geschlechterdifferenzen wurde den Männern das vermeintlich schwache Weinen abgesprochen. Ein echter Junge hatte sich zusammenzureissen, die Gefühle hinunterzuschlucken.
Und ein Mann erst recht. Er sollte Macht und Stärke verkörpern. «Hegemoniale Männlichkeit zerfliesst nicht in Tränen», schreibt Renate Möhrmann in ihrer «Kulturgeschichte der Tränen».
«Das befreit»
Diese Zeiten sind hoffentlich bald vorbei. Männer, weint und stiftet Frieden! Der Schweizer Marius Bear singt immerhin vor aller Welt «Boys Do Cry!». Ich finde das ein gutes Zeichen.
Meinen Sohn freut das auch. Er möchte etwas zum Thema sagen, sagt er mir. Mikrofon auf: «Hallo, ich bin Luis, ich bin 9 Jahre alt. Und ich finde Jungs dürfen weinen. Das befreit.»