Ein nächtlicher Spaziergang – davon träumen die 50 Kinder und Jugendlichen vor ihrer Abfahrt ins deutsche Magdeburg. Denn in ihrer Heimat, der ukrainischen Stadt Charkiw, ist das seit zwei Jahren nicht mehr möglich. Wegen der Ausgangssperre.
Das Bistum Magdeburg hat das Tanztheater «ARIRA» aus Charkiw in diesem Sommer eine Woche zu sich eingeladen.
Die Hölle von Charkiw
Charkiw ist die gefährlichste Grossstadt der Ukraine. Sie liegt nahe der Grenze zu Russland. Fast täglich wird das Stadtzentrum von der russischen Armee bombardiert und mit Raketen beschossen: Rund 2000 Geschosse, Bomben, Raketen und Kampfdrohnen wurden nach Angaben der ukrainischen Behörden allein 2024 auf die Region Charkiw abgefeuert.
Die Luftabwehr ist mit den unzähligen Angriffen überfordert. Oft kommt der Luftalarm zu spät, weil die Entfernung zu Russland so kurz ist – wie die Anflugzeit der Raketen.
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Bild 1 von 2. Die Leiterin von ARIRA, Natalia Bedich (rechts), sitzt vor dem Trümmerhaufen, der einst ihre Tanzschule beherbergte. Bildquelle: SRF / Roman Schell.
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Bild 2 von 2. Doch die Arbeit geht weiter: Inzwischen ist die Schule in einem grossen Gebäude im Zentrum der Stadt angesiedelt. Bildquelle: SRF / Roman Schell.
Die Tänzerfamilie Bedich will die Todeszone von Charkiw trotzdem nicht verlassen. Vor 15 Jahren gründeten sie hier das Tanzensemble ARIRA. In einem zweistöckigen Kulturpalast aus weissem Stein im Zentrum der Stadt trainieren sie einige Dutzend Jugendliche. Ihr altes Tanzstudio wurde bei den Kämpfen beschädigt.
Zwischen Luftsprüngen und Luftalarm
Vor dem Krieg zählte das Tanzkollektiv der Leiterin Natalia Bedich noch einige hundert Kinder. Heute sind bei ARIRA überwiegend Kinder und Jugendliche aktiv, die mit ihren Eltern nach Charkiw geflohen sind – aus den inzwischen besetzten oder komplett zerstörten Städten im Osten des Landes.
Es gibt nur wenige Angebote für Kinder in der Frontstadt Charkiw. Der Schulunterricht findet ausschliesslich online statt. Das Tanzstudio gehört zu den einzigen Orten, wo die Jugendlichen sich persönlich begegnen können.
«Bei Luftalarm gehen wir alle sofort in den Keller», erzählt Natalia Bedich. Dann müssen alle in einem sicheren Raum hinter zwei tragenden Wänden bleiben. «Mein Mann beobachtet die Lage permanent im Netz und warnt uns, wenn eine Rakete Richtung Charkiw fliegt», so Bedich.
Eine Woche Normalität
Rund 40 Stunden braucht die ukrainische Gruppe von Charkiw bis nach Magdeburg, eine zermürbende Fahrt durch die Sommerhitze. Allein an der Grenze müssen die Kinder sieben Stunden lang warten. Um durchzuhalten, singen sie die ganze Zeit zusammen.
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Bild 1 von 3. Dascha, 15 Jahre: «Mir ist aufgefallen, wie ruhig und entspannt die Menschen hier in Deutschland sind. Schön, dass es Leute gibt, die ein ruhiges, glückliches Leben haben. Ich lerne jetzt unsere Gruppenmitglieder neu kennen, denn ich habe sie noch nie in einer entspannten Situation erlebt.». Bildquelle: SRF / Roman Schell.
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Bild 2 von 3. Yaryna, 20 Jahre: «Unter der Dusche habe ich plötzlich verstanden, dass ich in Sicherheit bin. Ich muss jetzt nirgendwohin rennen. Ich muss mich nicht verstecken bei Luftalarm. Ich frage mich hier nicht, wo ich schlafen soll, damit mich die Glasscherben bei einer Explosion nicht zerschneiden.». Bildquelle: SRF / Roman Schell.
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Bild 3 von 3. Nika, 14 Jahre: «In Charkiw müssen wir schon beim Sonnenuntergang nach Hause gehen, weil die Eltern grosse Angst um ums haben. Hier können wir uns gut entspannen.». Bildquelle: SRF / Roman Schell.
Insgesamt eine Woche ist die Gruppe in der Europäischen Jugendbildungsstätte Magdeburg zu Gast, einer alten Villa mit einer grossen Parkanlage: Spielen, tanzen, malen, Yoga machen, lecker essen, spazieren. Die Auszeit tut der Gruppe sichtlich gut. Die Mitglieder wirken deutlich entspannter und fröhlicher.
Ein Funken Hoffnung
Doch der Krieg hat beim Theaterensemble Spuren hinterlassen: Jedes Flugzeug am Himmel macht sie unruhig. Als die Kinder abends am Lagerfeuer ein Feuerwerk hörten, schrien viele panisch und versuchten, sich zu verstecken.
Natalia Bedich sieht aber auch einen Funken der Hoffnung: «Der Krieg hat die Jugendlichen auch viel motivierter gemacht. Sie träumen von weiteren Auftritten in Westeuropa.»
Nach der Deutschland-Reise steht für ARIRA eine Ukraine-Tour an, inklusive Aufführungen für die Soldatinnen und Soldaten. «Dafür werden wir jetzt nach der Ankunft hart trainieren», sagt Natalia Bedich. «Der Krieg hat die Kinder gelehrt, nicht zu warten. Die beste Zeit, um die Träume zu verwirklichen, ist jetzt.»