Kurze Atempause im Westen - Eine Woche Ferien für 50 ukrainische Kinder
Sie leben in der gefährlichsten Grossstadt der Ukraine. Im deutschen Magdeburg erhalten 50 Kinder und Jugendliche vom Tanztheater «ARIRA» eine dringend benötigte Auszeit.
Ein nächtlicher Spaziergang – davon träumen die 50 Kinder und Jugendlichen vor ihrer Abfahrt ins deutsche Magdeburg. Denn in ihrer Heimat, der ukrainischen Stadt Charkiw, ist das seit zwei Jahren nicht mehr möglich. Wegen der Ausgangssperre.
Das Bistum Magdeburg hat das Tanztheater «ARIRA» aus Charkiw in diesem Sommer eine Woche zu sich eingeladen.
Die Hölle von Charkiw
Charkiw ist die gefährlichste Grossstadt der Ukraine. Sie liegt nahe der Grenze zu Russland. Fast täglich wird das Stadtzentrum von der russischen Armee bombardiert und mit Raketen beschossen: Rund 2000 Geschosse, Bomben, Raketen und Kampfdrohnen wurden nach Angaben der ukrainischen Behörden allein 2024 auf die Region Charkiw abgefeuert.
Die Luftabwehr ist mit den unzähligen Angriffen überfordert. Oft kommt der Luftalarm zu spät, weil die Entfernung zu Russland so kurz ist – wie die Anflugzeit der Raketen.
Die Tänzerfamilie Bedich will die Todeszone von Charkiw trotzdem nicht verlassen. Vor 15 Jahren gründeten sie hier das Tanzensemble ARIRA. In einem zweistöckigen Kulturpalast aus weissem Stein im Zentrum der Stadt trainieren sie einige Dutzend Jugendliche. Ihr altes Tanzstudio wurde bei den Kämpfen beschädigt.
Zwischen Luftsprüngen und Luftalarm
Vor dem Krieg zählte das Tanzkollektiv der Leiterin Natalia Bedich noch einige hundert Kinder. Heute sind bei ARIRA überwiegend Kinder und Jugendliche aktiv, die mit ihren Eltern nach Charkiw geflohen sind – aus den inzwischen besetzten oder komplett zerstörten Städten im Osten des Landes.
Es gibt nur wenige Angebote für Kinder in der Frontstadt Charkiw. Der Schulunterricht findet ausschliesslich online statt. Das Tanzstudio gehört zu den einzigen Orten, wo die Jugendlichen sich persönlich begegnen können.
«Bei Luftalarm gehen wir alle sofort in den Keller», erzählt Natalia Bedich. Dann müssen alle in einem sicheren Raum hinter zwei tragenden Wänden bleiben. «Mein Mann beobachtet die Lage permanent im Netz und warnt uns, wenn eine Rakete Richtung Charkiw fliegt», so Bedich.
Eine Woche Normalität
Rund 40 Stunden braucht die ukrainische Gruppe von Charkiw bis nach Magdeburg, eine zermürbende Fahrt durch die Sommerhitze. Allein an der Grenze müssen die Kinder sieben Stunden lang warten. Um durchzuhalten, singen sie die ganze Zeit zusammen.
Insgesamt eine Woche ist die Gruppe in der Europäischen Jugendbildungsstätte Magdeburg zu Gast, einer alten Villa mit einer grossen Parkanlage: Spielen, tanzen, malen, Yoga machen, lecker essen, spazieren. Die Auszeit tut der Gruppe sichtlich gut. Die Mitglieder wirken deutlich entspannter und fröhlicher.
Ein Funken Hoffnung
Doch der Krieg hat beim Theaterensemble Spuren hinterlassen: Jedes Flugzeug am Himmel macht sie unruhig. Als die Kinder abends am Lagerfeuer ein Feuerwerk hörten, schrien viele panisch und versuchten, sich zu verstecken.
Natalia Bedich über die Beweggründe der Verschnaufpause
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«Das Ziel unserer Reise war, die innere Anspannung bei Kindern wegzunehmen. Sie haben Kinderattraktionen und Wasserparks besucht, die in Charkiw geschlossen sind. Während dieser Reise konnten sie wieder Kinder sein. Das hat sie innerlich entspannt. Sie haben ein Gefühl bekommen, dass alles in ihrem Leben vielleicht wieder gut werden könnte.
Ich bin auch entspannter geworden. Die Kinder schauten mich an und wurden automatisch entspannter. Während dieser Reise haben wir alles Mögliche gemacht, damit die Kinder sich wieder frei und sicher fühlen. Das ist uns gelungen. Dabei ist in jedem von uns ein Modell des friedlichen Lebens wieder entstanden.
Nun ist es einfacher für uns, in den Krieg – nach Charkiw – zurückzukehren. Denn dieses Modell des Friedens behalten wir in uns. Mit Erinnerungen an diese Reise werden die Kinder noch ganz lange leben und dabei weinen. Im Krieg vermissen sie das Zwischenmenschliche sehr. Ihnen fehlen die Kontakte zu Menschen. Deswegen wollen sie so oft umarmt werden. Deswegen umarmen sie einander ganz oft.
Während dieser Reise konnten sie auf einmal mit sehr vielen Menschen kommunizieren. Das war für sie sehr wichtig. Der folgende Gedanke gibt ihnen jetzt viel Kraft – es gibt Menschen im Ausland, die ihnen helfen und unterstützen. Einfach so.»
Natalia Bedich sieht aber auch einen Funken der Hoffnung: «Der Krieg hat die Jugendlichen auch viel motivierter gemacht. Sie träumen von weiteren Auftritten in Westeuropa.»
Nach der Deutschland-Reise steht für ARIRA eine Ukraine-Tour an, inklusive Aufführungen für die Soldatinnen und Soldaten. «Dafür werden wir jetzt nach der Ankunft hart trainieren», sagt Natalia Bedich. «Der Krieg hat die Kinder gelehrt, nicht zu warten. Die beste Zeit, um die Träume zu verwirklichen, ist jetzt.»
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Radio SRF2 Kultur, Kultur-Aktualität, 16.7.2024, 17:10 Uhr.
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Aus '10 vor 10' vom 25.04.2024, 21:50 Uhr (Link zur Sendung)
FOKUS: Der Krieg ist zurück in Charkiw
10 vor 10(Link zur Sendung) vom 25.04.2024, 21:50 Uhr
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