Russland hat eine Offensive im Grenzgebiet zur ukrainischen Millionenstadt Charkiw bestätigt. Der Kreml meldet, man habe unmittelbar hinter der Grenze fünf Dörfer eingenommen. Ist das der lang erwartete russische Vorstoss auf die zweitgrösste Stadt der Ukraine? Marcel Berni, Experte an der Militärakademie der ETH Zürich, schätzt die Lage ein.
SRF News: Was bezweckt Russland jetzt mit diesen Vorstössen?
Marcel Berni: Russland bezweckt mit den jüngsten Vorstössen vor allem drei Ziele: Erstens geht es darum, die ukrainischen Streitkräfte unter Zugzwang zu setzen. Das heisst, die Ukrainer zu zwingen, die eigenen Truppen aus dem Donbass und der Südukraine abzuziehen und in den Nordosten zu verschieben.
Wahrscheinlich ist ein Grossteil der westlichen Unterstützung derzeit noch auf dem Weg an die Frontlinie in der Ukraine und noch nicht einsatzbereit.
Zweitens versucht Russland, eine Art Pufferzone an der eigenen Grenze zu errichten, wo mit eigenen Artillerieangriffen auch die zweitgrösste Stadt Charkiw unter Feuer genommen werden kann. Drittens geht es darum, die Voraussetzungen für eine spätere Grossoffensive auf Charkiw zu schaffen.
Was sind die Risiken für die Ukraine?
Die Ukraine riskiert derzeit, dass die Russen auch nordöstlich von Charkiw Fuss fassen. Damit riskiert die Ukraine eine permanente Truppenkonzentration russischer Soldaten auf eigenem Gebiet – und zwar in einer Region, die sie im Jahr 2022 zurückerobert hat.
Gibt es auch Gefahren für Russland mit dieser Taktik?
Russland riskiert derzeit, unter ukrainische Gegenangriffe zu kommen. Russland riskiert aber auch, mit dem Auftun einer zusätzlichen Front die eigenen Streitkräfte zu verzetteln. Also eigentlich genau das, was 2022 bereits passiert ist.
Was brauchen die ukrainischen Truppen, um die russischen Angriffe abzuwehren?
Die ukrainischen Truppen brauchen eigentlich mehr oder weniger das, was sie schon in den letzten Wochen und Monaten immer gefordert haben: nämlich westliche Unterstützung materieller Natur, insbesondere Artilleriemunition, aber eben auch westliche Luftabwehrsysteme.
Ich glaube, dass sich dieser Krieg noch lange in diesem Abnutzungsstadium befinden wird.
Helfen die jüngsten Waffenlieferungen bei der Abwehr der Angriffe?
Die jüngsten Waffenlieferungen dürften helfen. Es stellt sich diesbezüglich aber die Frage, ob der Grossteil davon schon an den Frontlinien angekommen ist. Wahrscheinlich ist ein Grossteil der westlichen Unterstützung derzeit noch auf dem Weg an die Frontlinie in der Ukraine und noch nicht einsatzbereit.
Ist das der Beginn der russischen Grossoffensive, die für den Frühsommer erwartet worden ist?
Ob es sich wirklich um den Beginn einer grossen russischen Offensive handelt, ist im Moment noch nicht beantwortbar. Ich denke, es handelt sich primär um konzentrierte taktische russische Vorstösse, die noch nicht zu einem operativen Durchbruch geführt haben.
Hat Russland überhaupt ausreichende Kapazitäten für eine Grossoffensive?
Wir beobachten derzeit grössere Truppenkonzentrationen im Nordosten des Landes. Das würde dafür sprechen, dass Russland in den nächsten Wochen und Monaten einen Fokus auf Charkiw, auf die zweitgrösste Stadt im Nordosten der Ukraine, legen dürfte.
Was erwarten Sie in der nahen Zukunft im Ukraine-Krieg?
Ich erwarte, dass es mehr oder weniger mit dem Stellungs- und Abnutzungskrieg weitergehen wird. Ich erwarte keinen grossen Durchbruch beider Seiten in den nächsten Wochen und Monaten. Und ich glaube, dass sich dieser Krieg noch lange in diesem Abnutzungsstadium befinden wird.
Das Gespräch führte Sabine Gorgé.