Im Krieg in der Ukraine gerät Kiew zusehends in die Defensive. Langsam, aber stetig verschiebt Russland die Front im Osten ins Landesinnere. Und der Ukraine fehlt es an Munition, Waffen – und Soldaten.
Ende Februar bezifferte Präsident Wolodimir Selenski die Zahl der getöteten Soldaten seiner Streitkräfte auf 31'000. Zehntausende mehr wurden verwundet.
Für Kiew wird es im dritten Jahr des Krieges zusehends schwieriger, Männer für den Wehrdienst einzuziehen, wie Judith Huber berichtet, die eben erst als Sonderkorrespondentin von SRF im Land war. Denn viele Männer, die bislang verschont blieben, wollen nicht in den Krieg ziehen.
Flucht ins Ausland und korrupte Beamte
Zwar entziehe sich nur eine kleine Minderheit dem Kriegsdienst, in dem sie ins Ausland fliehe. Laut Schätzungen der britischen BBC vom letzten Herbst haben sich rund 20'000 ukrainische Männer seit Beginn der russischen Grossinvasion ins Ausland abgesetzt.
Die Mehrheit derjenigen, die vor der Rekrutierung fliehen, gelangt auf abgelegenen Pfaden über die grüne Grenze. «Sie tun das oft nachts und mithilfe von Schleusern», sagt Huber. Die Schleusernetzwerke sollen zwischen 5000 und 15'000 Euro für ihre Dienste verlangen. Andere schwimmen über den Grenzfluss Theiss nach Ungarn oder Rumänien. «Tragischerweise sind dabei auch schon zahlreiche Männer ertrunken.»
Manche Wehrpflichtige kaufen sich bei korrupten Beamten ein gefälschtes medizinisches Attest, das sie als untauglich ausweist. Damit versuchen sie, ganz regulär die Grenze zu passieren.
Erst letzte Woche meldeten die ukrainischen Behörden, sie hätten einen Mann festgenommen, der sich als Frau verkleidet hatte. Mit dem Pass seiner Schwester versuchte er, sich ins Ausland abzusetzen.
Ausharren, bis der Krieg vorüber ist
Viele wehrpflichtige Männer verstecken sich derweil innerhalb der Ukraine. Offizielle Zahlen gibt es dazu keine. Wie Huber bei ihren Aufenthalten im Land erfahren hat, scheint es sich dabei aber um ein verbreitetes Phänomen zu handeln.
Jeder und jede kenne jemanden, der sich auf diesem Weg dem Kriegsdienst entziehe: «Ich habe etwa von einem Mann gehört, der an seinem Arbeitsplatz übernachtet und kaum nach Hause geht. Andere meiden den öffentlichen Verkehr und gehen selten raus.»
Die Gründe dafür, sich dem Kriegsdienst zu entziehen, sind vielfältig – und auch menschlich verständlich. Manche der Männer haben keinerlei militärische Ausbildung und glauben, dass sie nicht fähig sind, zu kämpfen. Anderen fehlt das Vertrauen in die Armee, dass sie ihren Fähigkeiten entsprechend eingesetzt werden. Und viele fürchten sich schlichtweg davor, zu sterben.
In der ukrainischen Gesellschaft gebe es mitunter auch Verständnis für Männer, die aus solchen Gründen keinen Wehrdienst leisten wollen, so die Sonderkorrespondentin. Bei Soldaten, die ihr Land verteidigen, und ihren Angehörigen sieht das aber anders aus: «Sie finden es unfair, dass die einen kämpfen müssen und die anderen nicht.» Diese Kritik verstärke sich nochmal gegenüber jenen, die ins Ausland geflohen sind. «Dieses Verhalten wird als unpatriotisch gebrandmarkt», schliesst Huber.