«Alles wird beständig teurer. Aber schlimmer als alle tatsächliche Teuerung wirkt jene rücksichtslose industrielle Gewinnsucht», schreibt die bürgerlich-liberale Neue Zürcher Zeitung am 28. April 1918.
Es ist ein unmissverständliches Votum gegen das Gebaren jener Schweizer Fabrikanten, die während des Ersten Weltkriegs kriegswichtige Produkte herstellen, fette Gewinne erwirtschaften und nicht selten Dividenden von bis zu 25 Prozent ausbezahlen.
Die Not der Arbeiterschicht
Das kritisierte Gewinnstreben kontrastiert mit der sozialen Lage der Arbeiterinnen und Arbeiter, die sich im Laufe des Kriegs massiv verschlechtert. Nahrungsmittel werden zunehmend knapp. Die Löhne halten mit der rasanten Teuerung nicht mit. Besonders Arbeiterfamilien mit Männern, die über Jahre Militärdienst leisten, leiden. Sie erhalten lediglich einen bescheidenen Sold, mit dem die Familien kaum über die Runden kommen.
Im letzten Kriegsjahr spitzt sich die Not dermassen zu, dass bis zum Sommer 1918 700‘000 der insgesamt knapp vier Millionen Einwohnerinnen und Einwohner auf die Hilfe der öffentlichen Hand angewiesen sind.
Der herrschende Bürgerblock zeigt wenig Bereitschaft, der unheilvollen Situation entgegenzuwirken. Der damals ausschliesslich mit Bürgerlichen besetzte Bundesrat greift, wenn überhaupt, nur zögerlich ein.
Es kommt zum Generalstreik
Auch werden die Rufe nach mehr politischem Einfluss für die Linke geflissentlich überhört. Aufgrund des bestehenden Majorz-Wahlrechts sind die Sozialdemokraten im Nationalrat mit rund 20 Sitzen noch immer eine Minderheit mit lediglich marginalem politischem Einfluss.
Das Schreckgespenst der kommunistischen Revolution
Im Herbst 1918 ist das politische Klima im Innern der Schweiz auf dem Tiefpunkt angelangt. Ende September treten Bankangestellte in Zürich in den Streik. Die lokale Arbeiterschaft unterstützt diesen mit einem Generalstreik.
Auf Drängen von Ulrich Wille, dem General der Schweizer Armee, bietet der Bundesrat Truppen auf. 20‘000 Soldaten werden in Zürich stationiert, weitere Zehntausende in anderen Städten des Landes. Wille malt das Schreckgespenst einer angeblich bevorstehenden kommunistischen Revolution an die Wand.
Der Konflikt eskaliert
Der Führungsstab der Arbeiterschaft, das so genannte «Oltener Aktionskomitee», ruft am 9. November in 19 Städten einen eintägigen Generalstreik auf – aus Protest gegen das als Provokation empfundene Aufgebot der Armee. Einen Tag später kommt es in Zürich zu Tumulten. Ein Soldat wird getötet.
Im Hintergrund laufen Verhandlungen. Sie führen zu keinen Ergebnissen. Das «Oltener Aktionskomitee» ruft für den 12. November den Landesstreik aus. 250‘000 Arbeiterinnen, Arbeiter und Angestellte legen die Arbeit nieder.
Wer zeigt wem den Meister?
Der Nationalrat tritt zur Sonderdebatte zusammen. Der landesweite Generalstreik sei «ein Verbrechen», poltert es von bürgerlicher Seite. Das eigentliche Verbrechen sei es, die Armee gegen die Arbeiter aufzubieten, kontern die wenigen Sozialdemokraten im Saal.
Sie fordern vorgezogene Neuwahlen nach dem Proporz-System, Sozialversicherungen und die Einführung der 48-Stunden-Woche. Die bürgerliche Mehrheit im Nationalrat, der Bundesrat sowie die Armeeführung geben sich unerbittlich. Die Zeichen stehen auf Sturm. Es geht nur noch um die Frage: Wer zeigt wem den Meister?
Das «Oltener Aktionskomitee» befürchtet, dass der Streik durch die Armee niedergeschlagen wird. Einen Bürgerkrieg, auf den man überhaupt nicht vorbereitet ist, wollen die Arbeiterführer nicht riskieren. Sie brechen den Streik am dritten Tag ab. Armee und Bundesrat gehen als Sieger vom Platz – zumindest kurzfristig.
Der Teilsieg der Linken
Bald jedoch zeigt sich, dass mehrere Forderungen der Arbeiterschaft dennoch in Erfüllung gehen: Das revidierte Fabrikgesetz legt die 48-Stunden-Woche fest. Und vorgezogene Parlamentswahlen, die erstmals nach dem Proporzsystem erfolgen, bringen im Oktober 1919 den Sozialdemokraten doppelt so viele Sitze wie bis anhin.
Der Linken gelingt es damit, endlich auch Teil des auf breite Partizipation ausgerichteten politischen Systems der Schweiz zu werden. Bis die Arbeiterschaft allerdings auch in die Landesregierung einzieht, wird es noch bis 1943 dauern: Erst dann wählt die Vereinigte Bundesversammlung mit dem Zürcher Ernst Nobs den ersten SP-Vertreter in den Bundesrat.
Sendung: Radio SRF 2 Kultur, Kontext, 23.10.2017, 9 Uhr