Einmal Lehrer werden? Das hätte sich der heute 34-jährige Stefan Tasić in seiner Jugend nie gedacht. Denn seine eigene Schulkarriere habe nicht sehr vielversprechend begonnen, erinnert er sich.
Schon der erste Schultag in der «Felsenburgmatte» in Pfäffikon (SZ) war eine Enttäuschung. Seine Eltern hatten ihn zwar begleitet, vom Lehrer bekam er einen «Schoggikäfer». Er habe aber, sagt Tasić, nicht gewusst, «warum ich dort hinmuss».
Am Anfang war die Angst
Andere Kinder in der Klasse konnten schon etwas lesen und schreiben, stellte der Erstklässler verblüfft fest. Gefühle des Ungenügens und der Angst kamen in ihm auf.
Die Orientierungslosigkeit des ersten Schultags hielt noch über Jahre an: «Ich sass im Unterricht. Die andern redeten etwas über den Wolf, über den Bären und über das Bruchrechnen. Ich aber schaute zum Fenster hinaus.»
Selbstdiagnose ADS
Heute kann Stefan Tasić das Problem benennen: Er hatte starke Konzentrationsschwierigkeiten. Bei einer Abklärung hätte er wohl die Diagnose Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom (ADS) bekommen, vermutet er.
Konzentrieren konnte er sich beim Zeichnen und beim Veloreparieren. Freude hatte er beim Sport und Spiel mit den Freunden auf dem Pausenplatz. Nur: Seine Zeugnisnoten waren schlecht. Er musste die fünfte Klasse wiederholen.
Erfolg nach der «Ehrenrunde»
Später als Primarlehrer erzählte er den Kindern von seinem eigenen schwierigen Schulanfang, zeigte ihnen sein erstes Zeugnis und sagte: «Schaut, ihr seid jetzt alle besser, als ich damals war. Ihr werdet auch etwas finden, was ihr gerne und gut macht.»
Tatsächlich lief es ihm nach der «Ehrenrunde», wie er sagt, in der Schule bedeutend besser: «Da ging bei mir ein Knopf auf, das Lernen machte mir immer mehr Freude.» Die obligatorische Schulzeit schloss er auf dem höchsten Leistungsniveau ab.
Ein Ordner voller Absagen
Jetzt wäre es möglich gewesen, in die Kantonsschule zu wechseln. Doch die Aufnahmeprüfung, die dafür nötig war, traute er sich nicht zu – trotz erfolgreichem Schulabschluss.
Eine Berufslehre zu machen, war dem 16-Jährigen auch ganz recht. Denn er wollte möglichst schnell Geld verdienen und von zu Hause ausziehen. Bei der Suche nach einer Lehrstelle stiess er jedoch auf einige Schwierigkeiten.
Er bewarb sich für Lehrstellen als Zahntechniker, Koch und Lastwagenfahrer – vorerst vergebens. Obwohl er sich ziemlich flexibel zeigte, folgte eine Absage auf die andere. Über 100 dieser Schreiben liegen noch heute abgeheftet in einem Ordner.
Zwischenhalt Zahntechnik
Mit 17 – Stefan Tasić hatte inzwischen den Einbürgerungstest bestanden und war Schweizer geworden – bekam er ein Praktikum als Kleinkinderzieher. Gleichzeitig suchte er weiter nach einer Lehrstelle als Zahntechniker, die er schliesslich in Zürich fand. Er schloss die Ausbildung als Zweitbester im Kanton ab.
Stefan Tasić arbeitete ein Jahr lang auf dem Beruf: «Ich war sehr gerne Zahntechniker. Es ist eine handwerkliche und künstlerische Arbeit, bei der man sehr genau sein muss.»
Zugleich habe er erkannt, dass er intellektuell mehr könne und wolle, und meldete sich an der Berufsmaturitätsschule in Pfäffikon (SZ) an.
Die Sache mit der Singprüfung
Mit der Berufsmatur in der Tasche eröffneten sich Stefan Tasić neue Möglichkeiten. Er folgte dem Rat seines Vaters, Lehrer zu werden. Nach einem halbjährigen Vorkurs studierte er an der Pädagogischen Hochschule im Kanton Schwyz.
Aus dem geplanten Auszug von zu Hause wurde vorerst nichts. Die Eltern stellten Kost und Logis. Seine Ausgaben für das Auto und den Ausgang deckte er mit dem Lohn als Barkeeper.
Das vielfältige Studium sei ihm leichtgefallen, abgesehen von der Singprüfung. Mit zusätzlichem Gesangsunterricht schaffte Tasić schliesslich auch diese Prüfung.
«Nie vor 20 Uhr nach Hause»
Trotz der guten Ausbildung hätten ihn gewisse Anforderungen im neuen Beruf als Lehrer überrascht, sagt Stefan Tasić. Dass Sitzungen und administrative Aufgaben so viel Zeit beanspruchten, hätte er nicht gedacht.
Auch die anfängliche Arbeitsbelastung sei hoch gewesen. «In meinem ersten Berufsjahr kam ich abends nie vor 20 Uhr nach Hause. Und ich wusste nicht, woran das lag.»
Seine Tage als Klassenlehrer einer fünften Klasse waren randvoll: «Bis 16 Uhr unterrichtete ich. Danach bereitete ich die Stunden für den nächsten Tag vor, korrigierte Arbeitsblätter und Hausaufgaben, bereitete Prüfungen und Elterngespräche vor.»
Entwicklung verschlafen
Als ehemaliger Zahntechniker und frischgebackener Primarlehrer mit einem schweizweit anerkannten Diplom gehörte Stefan Tasić von nun an zu den beruflichen Quereinsteigern im Klassenzimmer. Von ihnen ist derzeit viel die Rede, sie sind gefragt. Viele Schulen sind dringend auf Lehrpersonal angewiesen.
Der Mangel an Lehrkräften in der Schweiz ist akut, obwohl er schon vor Jahren prognostiziert wurde. Spätestens der Bildungsbericht der Schweizerischen Koordinationsstelle für Bildungsforschung von 2018 wies auf die demografische Entwicklung hin: Viele Lehrpersonen aus der Generation der Babyboomer gehen in Pension. Gleichzeitig werden geburtenstarke Jahrgänge von Kindern eingeschult.
Manche Kantone hätten diese vorausgesagte demografische Entwicklung verschlafen, räumte kürzlich der sozialdemokratische Schaffhauser Erziehungsdirektor Patrick Strasser gegenüber SRF ein.
Frauen und Männer, die aus anderen Berufen in die Schule wechseln, sind begehrt. Doch zugleich wird ihre Qualifikation oft in Frage gestellt. Dabei wird kaum bedacht, dass es im föderalen Bildungssystem der Schweiz unterschiedliche Ausbildungen für den Quereinstieg gibt.
Ausbildung mit hohen Anforderungen
Ein spezifisches Ausbildungsprogramm für den Quereinstieg wird derzeit an der Pädagogischen Hochschule der Fachhochschule Nordwestschweiz (FHNW) aufgebaut. Ziel ist, die Kantone Basel-Stadt, Baselland, Solothurn und Aargau aufgrund der Mangellage mit zusätzlichem qualifiziertem Lehrpersonal zu versorgen.
Bis jetzt haben 50 Personen diese Ausbildung begonnen, weitere 100 werden dazukommen, sagt Philipp Hirsch, der für diesen Lehrgang verantwortlich ist.
Die Anforderungen seien hoch, sagt Hirsch: «Wer das Studium aufnehmen will, muss mindestens 30 Jahre alt sein, eine erste abgeschlossene Berufsausbildung mitbringen und bereits drei Jahre Vollzeit gearbeitet haben.» Die interessierten Personen sollen zudem in einer Schule geschnuppert, mit einer Schulleitung gesprochen und ein Assessment bestanden haben. Die Ausbildung beginnt mit einem einjährigen Vollzeitstudium.
Danach können die Studierenden in den Primarschulen unterrichten, begleitet von erfahrenen Lehrkräften. Selbst dürfen sie noch keine Klassenverantwortung übernehmen. Das heisst: Sie schreiben noch keine Zeugnisse und führen auch keine Elterngespräche. Nach drei Jahren schliessen die Studierenden mit einem Bachelor und einem in der ganzen Schweiz anerkannten Diplom ab.
Umstrittene «Schnellbleiche»
Die kantonalen Erziehungsdirektionen bestimmen selbst, welche Leistungsaufträge sie mit ihren Pädagogischen Hochschulen vereinbaren. Bei einem Fachkräftemangel können sie schnellere und weniger anspruchsvolle Ausbildungsprogramme lancieren, auch wenn diese die Standards der EDK nicht erfüllen. Die Absolventen erhalten dann eine eingeschränkte Unterrichtsberechtigung. Dafür können die offenen Stellen besetzt werden.
Zu einer solchen Massnahme hat vor Kurzem der Kanton Zürich gegriffen. Er musste sich deswegen den Vorwurf gefallen lassen, berufsfremde Frauen und Männer mit einer «Schnellbleiche» zu Lehrerinnen und Lehrern zu machen, deren Qualifikationen zu wünschen übrigliessen und den anspruchsvollen Beruf abwerten würden.
Dahin zielte auch die Kritik des Dachverbands der Lehrerinnen und Lehrer Schweiz. Präsidentin Dagmar Rösler schürte vor Beginn des neuen Schuljahres die Bedenken von manchen Eltern: «Wenn ich als Mutter erfahren würde, dass unsere Tochter zu einer Lehrerin kommt, die keine Ausbildung hat, dann weiss ich nicht, ob ich noch gut schlafen könnte.»
In die gleiche Richtung in dieser emotional geführten Debatte äusserte sich die Präsidentin der kantonalen Elternmitwirkungs-Organisation Gabriela Kohler. Sie befürchtete in der Zeitschrift «Beobachter», dass Eltern nun wegen der «Notsituation» ihre Kinder vermehrt in eine Privatschule schicken oder sie selbst unterrichten würden.
Gute Noten für den Quereinstieg
Was die langfristige Qualität dieser je nach Kanton unterschiedlichen Ausbildungen für den Quereinstieg ausmacht – dazu gibt es bisher kaum Fakten. Bis heute fehlen systematisch erhobene Daten schon nur zur Zahl jener, die aus einem anderen Beruf in die Schule wechseln.
Der Mangel an pädagogischen Fachkräften dürfte gemäss Bildungsbericht noch mindestens fünf Jahre andauern. Da wäre es bildungspolitisch wohl sinnvoll, die in den verschiedenen Quereinstiegsprogrammen erworbenen Qualifikationen zu evaluieren.
Ziel müsste sein, die pädagogischen und fachlichen Standards hochzuhalten und den Beruf gleichzeitig für Personen zu öffnen, die qualifiziert und reich an ausserschulischen Kompetenzen und Erfahrungen sind.
Philipp Hirsch stellt jedenfalls jenen, die quer in die Schule einsteigen, ein gutes Zeugnis aus. Er beobachte, dass es sich um hochmotivierte Leute handle, die in der Lage seien, einen tiefgreifenden Lernprozess zu vollziehen. Auch der Bildungsbericht Schweiz äussert sich positiv: Die Motivation, im Beruf zu bleiben, sei bei einem Quereinstieg noch höher als bei Lehrpersonen, die auf direktem Weg in den Schuldienst gekommen sind.
Das Ganze im Blick
Stefan Tasić hat seinen Wechsel zum Lehrer nicht bereut: «Es ist ein super Beruf. Man kann sehr selbständig arbeiten. Und die Kinder geben einem sehr viel zurück.»
Nach sechs erfüllten Berufsjahren steigt er erneut um: «Ich werde Schulleiter, weil ich in dieser Position das grosse Ganze sehen und nicht nur meine Klasse, sondern alle Kinder der Schule fördern möchte.»
Und das, ohne den direkten Kontakt zu ihnen zu verlieren. Dass er nebenher auch noch in einem kleinen Pensum unterrichten kann, komme ihm sehr entgegen.