«In der Basiskirche sind wir teilweise sehr gut integriert», sagt Priscilla Schwendimann, die erste LGBTQI-Pfarrerin der Schweiz, angestellt von der Reformierten Kirche Zürich. «Die reformierte Kirche ist gegenüber LGBTQI auch von der Leitung her sehr offen. In der katholischen Kirche funktioniert es an der Basis ganz gut.»
Schwendimann spricht über die Situation in der Schweiz. «In der Kirche wurde das Gespräch nicht nur über Queers geführt, sondern mit ihnen. Das ist ein zentraler Punkt: die Aufarbeitung von vielen Verletzungen, die passiert sind. Da ist man immer noch dran. Wir sind auf gutem Weg, aber noch nicht am Ziel angekommen.»
Einbeziehen statt ausschliessen
Das Ziel ist, die christlichen Schwulen, Lesben, Bisexuellen und Transgender in den Kirchen voll einzubeziehen. Je nach Ort und Kirche sind sie unterschiedlich akzeptiert: von nahezu vollständiger Inklusion in protestantischen Gemeinschaften Nordeuropas bis zu weitgehendem Ausschluss und Tabuisierung etwa in katholischen und orthodoxen Kirchen Ost- und Südeuropas.
Auch da gelte es jedoch zu differenzieren, betont der Chorleiter Misza Czerniak, ein Russisch-Orthodoxer, der in Polen lebt: «Die polnische römisch-katholische Kirche und die von Zürich, die uns für dieses Forum die Paulus-Akademie zur Verfügung stellt, liegen sehr weit auseinander.»
Czerniak hat mit dem protestantischen Pastor Wilie Elhorst aus Amsterdam das Konzept für den RICE-Index erarbeitet, den «Rainbow Index on the Inclusivity of Churches in Europe». Dieser liefert aufgrund von 47 Kriterien Fakten über Inklusion und Exklusion. «Zuvor hatten wir lediglich anekdotisches Material. Dank des Index können wir fundiert mit politischen und kirchlichen Stellen sprechen», sagt Elhorst.
Die Menschen vor Ort sind entscheidend
Im Alltag hänge die Stellung von LGBTQI-Personen weniger von der Lehre einer Kirche ab als vielmehr von lokalen Verhältnissen, von den Menschen in den Pfarreien, sagt Misza Czerniak. In seiner als konservativ geltenden Kirche habe er viele aufgeschlossene Leute getroffen, so dass er ohne Anfechtungen am Pfarreileben teilnehmen kann.
«In Polen und Russland etwa sind die Mehrheitskirchen eng verbunden mit dem Staat», sagt Czerniak. «Sie sind geistig und spirituell nicht frei. Und da sie eng mit der Regierung verquickt sind, scheren sie sich nicht um Individuen, sondern propagieren einen Mainstream.
LGBTIQ-Personen, Geschiedene, Migranten und andere Marginalisierte interessieren sie nicht.» Sie würden die – in Anführungszeichen, betont Czerniak – «traditionelle» Familie predigen.
Aufklärung im Alten Testament
Gesellschaftspolitische Referate wie das von Elhorst und Czerniak über den RICE-Index standen ebenso auf dem Programm des Europäischen Forums der christlichen LGBTQI-Gruppen in Zürich wie Feste, ein Gottesdienst und Workshops.
Etwa einer des dänischen Theologen und Sprachwissenschaftlers Renato Lings über das alttestamentarische Buch Hiob. Lings beschäftigt sich seit langem mit hebräischen und griechischen Bibeltexten. Er liest das Buch der Bücher queer und hat darüber ein Werk verfasst: «Holy Censorship or Mistranslation? Love, Gender and Sexuality in the Bible».
Keine Hiobsbotschaft, sondern Selbstbestimmung
Im Propheten Hiob sieht Renato Lings «einen Vorläufer von Feminismus und LGBT-freundlichem Denken». Obwohl Hiob von Satan mit Gottes Einverständnis hart geprüft wird und seine Kinder, sein Vermögen, seine Gesundheit verliert, zweifelt er nie an Gott.
Unbeirrbar bleibt er auch, als ihm Freunde nahelegen, sein Verhalten zu ändern. Er habe nichts Unrechtes getan, beharrt er. Zwar beklagt er sein Unglück, verflucht aber nie Gott. Dieser belohnt ihn schliesslich und gibt ihm alles zurück, sogar eine neue Familie, wiederum mit sieben Söhnen und drei Töchtern.
Diese Töchter erscheinen nun im Text sogar namentlich. Und Hiob beteiligt sie «zu gleichen Teilen» wie die Söhne am Erbe. Unerhört für jene Zeit. Dies interpretiert Renato Lings als feministisches Element.
Ein Bibeltext queer gelesen
Und wo entdeckt er bei seiner queeren Lektüre den LGBTQI-Aspekt? In der Standhaftigkeit Hiobs. «Leute, die sich als seine Freunde bezeichnen, wollen ihn überzeugen, dass er im Unrecht sei, dass sie aber wüssten, was richtig ist für ihn. So geht es auch Schwulen und Lesben oft. Heterosexuelle behaupten, sie wüssten, wie man sich richtig verhalte.» Das sei eine Parallele zwischen Hiob und den Schwulen und Lesben in der Gesellschaft.
Doch weshalb will der Theologe sein Leben als schwuler Mann mit einem 2'500 Jahre alten Text untermauern? «Weil oft Bibeltexte gegen Geschlechtergleichheit und Diversität ins Feld geführt werden.»
Lings’ Lesart macht darauf aufmerksam, dass jeder Text, auch die Bibel, stets eine Vielzahl von Interpretationen ermöglicht. Die allgemeingültige, einzige Wahrheit existiert dabei nicht.