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Ein kleines Kind springt ins Wasser
Legende: Am Planschbecken kommen Gedanken über das Wesen des Spiels und das Wasser als Urgrund des Seins auf. Getty Images

Lob des Sommers Das Ich ist ein Planschbecken

Nichts bleibt. Nichts ist. Alles wird. Zu diesem Schluss kommt Yves Bossart am Rande eines Kinderschwimmbeckens – im vierten Teil unserer Sommerserie.

Da stehe ich also. Am Rand des Kinderbeckens. Zusammen mit leicht gebräunten und leicht gelangweilten Müttern. Vereinzelt ist auch ein Hipster zu sehen, mit gepflegtem Bart und rasierter Brust. Wir alle können nicht anders. Bei mir ist es die zweijährige Tochter. Sie planscht mit unzähligen anderen Kindern im knietiefen Wasser.

Yves Bossart

Moderator und Philosoph

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Yves Bossart, geboren 1983, ist promovierter Philosoph und arbeitet als Redaktor und Moderator für die SRF-Sendung «Sternstunde Philosophie» .

Dessen Temperatur übrigens entspricht genau derjenigen des Urins, der durch die vielen Schwimmwindeln ins Becken diffundiert. Leider bin ich gezwungen, hin und wieder in diese Ursuppe der Menschwerdung hineinzuspringen, um der Tochter das Spielzeug wegzunehmen, das sie einem anderen Kind unrechtmässig entrissen hat.

Der Schlüssel zum Verständnis

Nachdem die kosmische Gerechtigkeit wiederhergestellt ist, kehre ich an die Position des Betrachters zurück und philosophiere weiter, über die Kindheit, das Wesen des Spiels und das Wasser als Urgrund des Seins. Bereits für die ersten Denker des Abendlandes war das Wasser der Schlüssel zum Verständnis der Welt.

Thales etwa vermutete in dem wandelbaren Element den Urstoff des Universums, die verborgene Einheit hinter der Vielfalt. Sein Schüler Anaximander glaubte, das Leben insgesamt sei im «Feuchten» entstanden und der Mensch stamme wohl ursprünglich von den Fischen ab. Wenn ich die wie Kaulquappen planschenden Kindern vor mir sehe, klingt diese Hypothese ganz plausibel.

Veränderung ist konstant

Mein Held unter den hydrophilen Philosophen ist jedoch Heraklit. Zwar ist für den Dialektiker das lodernde Feuer tragendes Element des Universums, aber im kollektiven Bewusstsein verankert ist sein beneidenswerter Zweiwortsatz «Alles fliesst». Prägnanter kann man nicht ausdrücken, dass die einzige Konstante der Welt die Veränderung ist.

Nichts bleibt. Nichts ist. Alles wird. «Wir steigen in denselben Fluss und doch nicht in denselben, wir sind es und wir sind es nicht», schreibt Heraklit. Auf meine derzeitige Situation gemünzt, bedeutet das: Nicht nur der Inhalt des Kinderbeckens verändert sich durch die permanente Urinzufuhr, sondern auch ich, der ich stets von neuem ins Becken steigen muss: mein Körper wird unmerklich gebräunter, meine Stimmung gereizter und die Lust nach einem kühlen Bier intensiver.

Jede Sekunde ein Neuanfang

Kurz: Auch ich fliesse. Oder anders gesagt: Das Ich ist ein Planschbecken. Das mag auf den ersten Blick unangenehm sein. Indem Heraklit unsere Identität als Fiktion entlarvt, entreisst er uns die innere Heimat. Aber kann das nicht auch ein Geschenk sein? Schenkt uns Heraklit nicht jede Sekunde einen Neuanfang?

Nimmt er uns nicht Fesseln ab, die uns an die Vergangenheit heften? Macht er uns nicht offen für Begegnungen und Erfahrungen, die uns wandeln und verzaubern? Macht er uns nicht zu Kindern?

Lob des Sommers

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Es ist Sommer. Sommer kann so vieles sein. Was bedeutet er für Philosophen? Im Juli und August blicken wir auf sommerliche Themen, aus philosophischer Perspektive.

Das Wesen des Menschen

Kinder sind Wesen, die noch nicht fertig sind. Wesen, die wachsen, indem sie sich Fremdes zu eigen machen. Wesen, die auf andere zugehen, mit ihnen spielen, egal, welche Hautfarbe sie haben, welche Sprache sie sprechen, welcher Kultur sie angehören.

Genau in diesem offenen, spielerischen Treiben besteht das Wesen des Menschen. So schreibt Friedrich Schiller treffend, der Mensch sei «nur da ganz Mensch, wo er spielt». Der «homo ludens» ist im Spiel mit all seinen Fasern und Facetten präsent, mit Verstand, Gefühl und Sinnlichkeit. Er vergisst sich und die Welt und findet im Spiel so etwas wie Sinn, gepaart mit Sinnlichkeit.

Wir alle wollen spielen

Der niederländische Kulturhistoriker Johan Huizinga meint, im Erwachsenenalter werde aus diesem kindlichen Spiel schliesslich «heiliger Ernst» – das, was wir «Kultur» nennen. Leider vergessen wir Erwachsenen allzu oft, dass wir eigentlich doch nur spielen wollen. Dass wir Kinder sind. Das aber heisst auch: Wir alle baden im eigenen Urin und streiten um Spielsachen.

Bei der aktuellen Weltpolitik drängt sich der Vergleich mit dem Kinderbecken geradezu auf. Aber war es nicht Heraklit, der meinte: «Der Streit ist der Vater aller Dinge»? Hoffen wir also, dass etwas Vernünftiges dabei herauskommt. Und wenn nicht, dann steige ich höchstpersönlich ins Becken.

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