Ein Sommerwochenende in Berlin. Tief erleichtert trete ich durch die Pforte unserer Kleingartenanlage, mit dem Fahrrad nur 30 Minuten von unserer Haustür entfernt – mit dem Tram sind es 20.
«Naherholungsgebiet» steht auf einer Steintafel. Als hätte dieses Wort einen Abwehrzauber, verstummt der Lärm der Grossstadt sofort. Sogar die Kinder sind plötzlich still.
Natur pur mitten in der Stadt
Von meinem Arm aus beobachtet unser Sohn interessiert eine Amsel, die auf dem frisch gemähten Rasen von Parzelle 14 nach einem Wurm pickt.
Seine grosse Schwester reitet auf ihrem imaginären Pferd Flöckchen voraus zu Parzelle 18, wo die gleichaltrige Chantal spielt.
1926 wurde die Anlage gegründet. Die meisten Häuser stammen aus dieser Zeit, geräumige Holzhütten mit Küche, Schlafzimmer, Wintergarten, manchmal sogar (wie in unserem Fall) Öfen.
Mein Mann schiebt den voll bepackten Kinderwagen, darin Nudeln, Windeln, Bier, Gelierzucker, was man so braucht für ein Wochenende im Garten.
Glück trotz Unkraut
Himbeeren ernten, Marmelade kochen, Sträucher beschneiden (und, ja, auch Unkraut jäten, der Giersch mit seinen Rhizomen ist zugegebenermassen eine Pest!), zwischendurch ein Schläfchen in der Hollywoodschaukel oder im nahe gelegenen See schwimmen, abends ein Bier auf der Bank: Die Entscheidung, Kleingärtner zu werden, gehört zu den besten unseres Lebens.
Wo sonst könnten wir uns, inmitten des Grossstadttrubels und alltäglichen Termingehetztes, so gut entspannen wie hier? Und das, obwohl der Namensgeber des Schrebergartens alles andere als Entspannung im Sinn hatte.
Einst Drill und Disziplin
Moritz Schreber war Begründer der sogenannten Schwarzen Pädagogik. Ein Verfechter von Zucht und Ordnung, Drill und Gehorsam und damit ideologischer Wegbereiter des Faschismus.
Schrebers ältester Sohn brachte sich um, der jüngere wurde als Paranoiker einer der berühmtesten Fälle Sigmund Freuds. «Ringe nach voller Herrschaft über dich selbst, über deine geistigen und leiblichen Schwächen und Mängel», so rät Schreber.
Er empfiehlt allerlei gymnastische Übungen für den Alltag, um etwa der «Trägheit der Unterleibsfunktionen» oder «krankhaften, schwächenden Pollutionen» durch «Sägebewegungen» oder «Zusammenschlagen der Arme» entgegenzuwirken.
Heute «laissez-faire»
Mit meiner erdigen Hand streiche ich unserem dreijährigen Söhnchen übers Haar, der gerade in der schattigen Laube schlummert. Ginge es nach Schreber, hätte ich ihn schon im Alter von acht Monaten bei etwaigen Einschlafproblemen mit «wiederholten körperlich fühlbaren Ermahnungen» konsequent bestrafen müssen.
Für unsere zehnjährige Tochter, die vermutlich gerade mit Chantal im Apfelbaum sitzt und ihr dreckige Witze erzählt, hält der Arzt den Rat bereit, sich «nach dem Erwachen sofort» zu erheben, damit keine unkeuschen Gedanken aufkommen.
Natürlich würden mein Mann und ich auch unseren Kindern gerne die Lust des Gärtnerns nahebringen. Aber wenn unsere Tochter lieber mit Flöckchen durch die Anlage reitet: bitte.
Tatsächlich dient der Garten uns nicht als schrebersches «specielles Erziehungsmittel». Er ist für uns noch nicht einmal ein Mittel «negativer Erziehung» im Sinne Rousseaus, der natürlich bei genauerem Hinsehen auch aus kleinen Menschen gute Menschen machen wollte.
Uns geht es ehrlich gesagt gar nicht um Erziehung. Schon gar nicht um Zucht. Gezüchtet, gezupft und zurechtgestutzt werden hier einzig und allein Sonnenblumen, Kirschbäume und Stockrosen.
Unseren Kindern hingegen wollen wir Ruhe von uns und uns Ruhe von den Kindern gönnen. An die Stelle des Erziehens tritt in unserem Garten das Seinlassen.