Neulich im Zug. Im Abteil hinter mir sass ein Mann, ohne Maske. Der Kontrolleur erinnerte ihn freundlich an die Maskenpflicht im öffentlichen Verkehr. Der Mann weigerte sich.
Anschliessend wiederholte eine Frau die Bitte. Der Mann blieb hart. Er sei gerne bereit zu diskutieren. Sie könne sich zu ihm setzen. Die Frau wollte nicht.
Ob sie denn die Fakten kenne, fragte er. Fakt sei, dass Maskenpflicht gelte, meinte die Frau. Der Mann lachte und murmelte etwas von «Diktatur». Anschliessend öffnete er sein Notebook und fing an zu arbeiten.
Eine amüsante Szene. Im Nachhinein fragte ich mich natürlich: Hätte ich mich einmischen sollen?
Viel interessanter aber schien mir die Frage: War das Verhalten des Mannes «typisch Mann»? Könnte man sich die Szene genauso gut mit einer Frau vorstellen?
Das problematische Geschlecht?
Meine Beobachtung ist: Auf Corona-Demonstrationen tummeln sich mehr Männer als Frauen. Bei manchen mag das nur männlicher Trotz sein: «Ich lasse mir doch nicht vorschreiben, was ich im Gesicht tragen soll!»
Der Männerüberschuss liegt aber auch an den vielen Verschwörungstheoretikern. Die meisten davon sind nämlich männlich.
Die deutsche Historikerin Hedwig Richter meint gar, der Boom von Verschwörungstheorien habe «sehr viel mit der Krise der Männlichkeit zu tun».
Neben den Verschwörungstheoretikern finden sich auf Corona-Demos aber auch viele Rechtsextreme. Auch hier handelt es sich bekanntlich vorwiegend um Männer. Aber warum eigentlich?
Ist Männlichkeit toxisch?
Warum begehen Männer mehr Straftaten als Frauen und greifen viel öfter zu Gewalt? Warum werden drei Viertel aller Suizide in der Schweiz von Männern begangen?
War das schon immer so oder liegt das an der angeblichen «Krise des Mannes»? Vielleicht machen Männer so viele Probleme, weil sie so viele Probleme haben?
Seit einiger Zeit ist die Rede von «toxischer Männlichkeit». Gemeint ist damit, dass das tradierte Männerbild schädlich sei, nicht nur für Frauen im Umfeld, sondern auch für die Männer selbst.
Männer, so das klassische Rollenbild, sollen stark sein, mutig, erfolgreich, kontrolliert und rational. Sie sollen Krieger sein, Helden, Beschützer, Eroberer, Machos.
Die Folgen davon kennen wir: Patriarchat, Sexismus, Ausbeutung und Diskriminierung von Frauen. Aber auch: Gewalt, Unfälle, Depressionen, Alkoholismus und Suizide von Männern.
Was also tun? Den Mann neu erfinden? Aus Machos Softies machen? Geht das überhaupt? Oder ist er halt so, der Mann?
Starres Rollenbild aufbrechen
Männern werde beigebracht, eine Fassade aufrechtzuerhalten, «die unsere wahren Gefühle und Probleme verdeckt, mit denen wir von klein auf konfrontiert sind». Das schreibt der Autor und Aktivist JJ Bola in seinem neuen Buch «Sei kein Mann! Warum Männlichkeit ein Albtraum für Jungs ist».
Ziel des Buches ist es, so Bola, «die Illusion einer starren und begrenzten Männlichkeit zu entlarven, die Jungen und Männer unfähig macht, mit ihren Gefühlen umzugehen und sie, unbeabsichtigt oder nicht, zu Aggressoren und Beherrschern ihrer Mitmenschen macht».
Bola selbst ist im Kongo geboren und in einer Londoner Brennpunktsiedlung aufgewachsen. Als Jugendlicher machte er eine prägende Erfahrung in Sachen Männlichkeit: Er lief mit seinem kongolesischen Onkel, wie üblich in der Familie, händchenhaltend durch London. Als seine Kumpels ihn sahen, wurde er verspottet.
Er verlor von einer Sekunde auf die andere jeglichen Respekt: «Ich sah gross und sportlich aus. Dank früher Bekanntschaft mit Liegestützen und Gewichtheben wirkte ich einschüchternd genug. All der Respekt, den ich mir verdient hatte, löste sich blitzschnell vor meinen Augen in Luft auf, als man mich Hand in Hand mit einem Mann spazieren gehen sah.»
Zwei Männer, die Händchen halten: ein Tabu. Zwei Männer, die sich prügeln: ganz normal. Ist das nicht absurd, ja pervers? Wie aber können wir uns von diesem problematischen Männlichkeitsbild lösen?
Der moderne Mann im ständigen Spagat
Im Alltag erlebe ich immer wieder, wie tief verankert traditionelle Geschlechtervorstellungen sind. Bei Frauen, bei Männern, bei mir selbst.
Ich selbst stehe zum Beispiel gerne mit einem Bier am Grill, sitze oft mit gespreizten Beinen da, treffe Freunde öfter zum Sport als zum blossen Reden, weine eher selten und weiss nie genau, ob ich meinen Vater zur Begrüssung umarmen soll oder nicht.
Zudem fühle ich mich, wie so viele Männer, manchmal überfordert aufgrund unterschiedlicher Rollenerwartungen: im Job, zu Hause mit den Kindern, mit der Frau, mit Freunden, im Sport. Wir Männer sollen ja beides sein: stark und schwach.
Der moderne Mann im Spagat. Ein weinender Fels in der Brandung.
«Die Erwartungen, die heute an junge Männer gestellt werden, sind fast schon unmenschlich», meint der Schweizer Psychologe Allan Guggenbühl. «Sie müssen nach wie vor erfolgreich sein, Geld verdienen, in der Gesellschaft eine Rolle spielen. Gleichzeitig sollen sie auch empathisch sein, im Haushalt mitmachen.»
Armer Mann? Als hätten Frauen nicht dieselben Probleme mit der Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Aber finden die Probleme des Mannes vielleicht weniger Beachtung?
Positive Seiten des Mannes hervorheben
Das mag sein. Zumindest sehen das viele Männerrechtler so. Sie weisen auf diverse Benachteiligungen von Männern hin, etwa in der Schule oder bei Scheidungen. Zudem würden Männer heute als problematisches Geschlecht wahrgenommen, sagen sie.
Sie werden unter Generalverdacht gestellt, etwa in dem polarisierenden Werbespot von Gillette vom Januar 2019: Der Mann als potenzieller Täter, als Grapscher, als unsensibles Alphatier.
Gillettes Spot erntete massive Kritik, vor allem von Männern
Dagegen müsse man wieder betonen, so die Männerrechtler: Männer führen nicht nur Kriege, sondern holen auch Nobelpreise und sorgen für die Müllabfuhr.
Der Schweizer Soziologe und Männerforscher Walter Hollstein meint gar, die tägliche Funktionsfähigkeit unserer Gesellschaft hänge von Arbeiten ab, «die Männer machen und Frauen gar nicht machen wollen: Müllabfuhr, Entsorgung, Tiefbau, Gummiverarbeitung, Strassenfegen oder Abwasserreinigung».
Für Frauen gilt übrigens dasselbe, denken wir nur an die Pflege oder die Reinigung. Hollstein möchte jedoch, dass Männer wieder lernen, stolz zu sein auf ihr Geschlecht und sich nicht nur dafür zu schämen.
Antifeministen hetzen im Netz
Manche Männer aber gehen weiter. Allen voran die Antifeministen und Frauenhasser.
Viele davon tummeln sich im Netz, in der sogenannten «Manosphere». Hierzu zählen Gruppierungen wie die Pick-Up-Artists, die Gruppen «Men Going Their Own Way» (MGTOW), «Return of Kings», aber auch Anhänger des kanadischen Psychologen Jordan Peterson.
Der Philosoph Philipp Hübl vermutet, ein grosser Teil dieses antifeministischen Hasses im Netz würde auf eine «doppelte Kränkung» zurückgehen: «Die Männer empfinden es zum einen als Verlust ihrer Autorität, dass sie niemand beachtet und sie sich gleichzeitig von Frauen etwas sagen lassen müssen.»
Ausserdem seien die Frauen in der Öffentlichkeit für die gekränkten Männer oft sexuell unerreichbar und fügten sich, wenn sie auch noch Feministinnen sind, nicht in ihre «natürliche» Rolle. «Aus Sicht der gekränkten Männer verletzen sie damit das Prinzip der Reinheit. In den Kommentaren der Trolle vermischen sich zugleich sexuelles Interesse und Verachtung zu sexualisierten Hasskommentaren», so Hübl.
Motiviert Frauenhass zu Attentaten?
Teil der frauenfeindlichen Community sind auch die sogenannten «Incels», eine Abkürzung für «involuntary celibates», die unfreiwillig Zölibatären. Männer also, die keine Frauen finden und keinen Sex haben. Bekannt geworden sind sie durch Elliot Rodger, den 22-jährigen Amokläufer von Isla Vista, ein Antifeminist und selbst ernannter «Incel».
Übrigens waren auch die beiden Attentäter von Halle und Hanau dezidierte Antifeministen und Frauenhasser. Ebenso der norwegische Massenmörder Anders Breivik. Gibt es also eine Allianz von rechtsextremer Gewalt und Frauenhass?
Der deutsche Kulturtheoretiker Klaus Theweleit hat in seinem Kultbuch «Männerphantasien» von 1977 auf originelle Weise nach Verbindungen gesucht: Faschistische Männer würden sich einen «Körperpanzer» zulegen, aus Angst vor dem Weiblichen, vor Kontrollverlust, Erotik und eigener Schwäche.
Ähnliche Gedanken findet man bei Theodor W. Adorno, in seinen «Studien zum autoritären Charakter» von 1950, aber auch in der «Erziehung nach Auschwitz».
Adorno spricht von einem Hass des autoritären Charakters auf alles Schwache: «Wer hart ist gegen sich, der erkauft sich das Recht, hart auch gegen andere zu sein, und rächt sich für den Schmerz, dessen Regungen er nicht zeigen durfte, die er verdrängen musste.»
Die Unterdrückung des Schmerzes, das Verdrängen der eigenen Schwäche also führt letztlich zum Hass auf alles Schwache. Das gilt für den Antifeminismus ebenso wie für den Antisemitismus.
Der Patriarch verachtet die Frau
Anders als Adorno versteht die australische Philosophin Kate Manne in ihrem einschlägigen Buch «Down Girl. Die Logik der Misogynie» den Frauenhass nicht primär als psychologisches Phänomen. Misogynie sei kein Gefühl, meint Kate Manne, sondern ein Mittel zur Aufrechterhaltung des Patriarchats: «Ich vertrete die Ansicht, dass Misogynie als System zu verstehen ist, das innerhalb der patriarchalischen Gesellschaftsordnung dafür sorgt, dass die Unterwerfung von Frauen durchgesetzt und kontrolliert und die männliche Herrschaft aufrechterhalten wird.»
In patriarchalen Gesellschaften, wie der unseren, gäbe es die «guten» und die «schlechten» Frauen: die guten Frauen dienen, sie sind fürsorglich, haben Mitgefühl und Bewunderung für den Mann. Sie geben dem Mann, was er braucht.
Aber wehe, sie tun es nicht. Dann werden sie zu Opfern der Misogynie. So stabilisiert sich das patriarchale System.
Was tun? Nicht lange warten!
Das ist alles richtig. Aber was machen wir damit? Wie entgiften wir den Mann? Meine Vermutung ist: Egal, was wir tun, wir sollten früh damit anfangen. Sehr früh.
Daher meine Bitte an alle Eltern, Onkel und Grossmütter: Schenkt den Buben Puppen und steckt sie in Mädchenkleider. Meinen beiden Töchtern kaufe ich schliesslich auch Bagger und Klamotten für Jungs. Und wer weiss: Vielleicht verschwinden dann auch diese lästigen Verschwörungstheoretiker. Das allein wäre es wert.