Endlich startet sie, die Missbrauchsstudie in der Schweiz. Endlich, weil andere Länder wie Deutschland und die USA schon vor Jahren derartige Studien in Auftrag gegeben haben. Und die Zeit drängt: Wer in den 1950er-Jahren Opfer von sexuellen Übergriffen wurde oder Zeugin war, ist heute 80-jährig oder älter.
Positiv an der Studie ist, dass sie von unabhängiger Seite durchgeführt wird. Die beiden Historikerinnen, die sie leiten, sprachen im Vorfeld offen von schwierigen Verhandlungen mit den Verantwortlichen der römisch-katholischen Kirche. Das gibt ihnen Glaubwürdigkeit. Und dass an der Medieninformation auch die Opferverbände dabei waren, ist auch ein gutes Zeichen.
Niemand kann es sich leisten, nicht mitzumachen
Die Betroffenen forderten im Vorfeld, dass die Studie breiter angelegt wird, dass auch Kriminologinnen oder Psychiater einbezogen werden. Ob dies geschieht, zeigt sich in einem Jahr. Denn die nun vorgestellte Studie ist auf ein Jahr angelegt.
Das ist ein kluger Schachzug. So können die Forscherinnen und Forscher Druck machen, wenn einzelne Organisationen nicht kooperieren, etwa Akten nicht zur Verfügung stellen. Dass sie dabei auf grössere Probleme stossen, ist jedoch unwahrscheinlich.
In der heutigen Zeit können es sich kirchliche Institution kaum mehr leisten, sich der Aufarbeitung des Missbrauchsskandals zu verweigern. Zudem sind alle wichtigen Beteiligten mit an Bord: die Bischöfe, die Kantonalkirchen und die Ordensgemeinschaften.
Ernsthaft Strukturen verändern
«Nur wenn wir all das schonungslos aufdecken und benennen, tragen wir zur Gerechtigkeit bei», sagte Bischof Joseph Bonnemain an der Medienkonferenz. Ehrliche Aufarbeitung bedeutet aber auch, dass die römisch-katholische Kirche und ihre Institutionen bereit sind, Strukturen zu verändern, die sexuelle Übergriffe begünstigten.
Dazu gehören die kirchlichen Hierarchien und die Überhöhung der Priester, die als geweihte eine Sonderstellung einnehmen. Oder aber, dass über den Pflichtzölibat diskutiert wird, wie es Kardinal Reinhard Marx nach der deutschen Missbrauchsstudie anregte.
Hohe Dunkelziffer wird erwartet
Der Blick ins Ausland zeigt: Die Missbrauchsstudien haben jeweils viel mehr Fälle aufgedeckt als vorher bekannt waren. In Frankreich soll es etwa zu 300'000 Übergriffen gekommen sein. In Deutschland und den USA gehen die Studienautoren davon aus, dass sich rund 4,5 Prozent der Priester des sexuellen Missbrauchs strafbar gemacht haben.
Ob diese Zahlen sich auf die Schweiz übertragen lassen, muss die Schweizer Studie nun zeigen. Für die römisch-katholische Kirche ist es eine Chance zu beweisen, dass es ihr mit der Aufarbeitung ernst ist. Für die Opfer kann die Studie Genugtuung bringen, eine ehrliche Anerkennung ihres Leids und vielleicht den Trost, dass ähnliches in Zukunft nicht mehr im gleichen Masse möglich sein wird.