Die katholische Kirche will Missbrauchsfälle im kirchlichen Umfeld jetzt von einer unabhängigen Stelle aufarbeiten lassen. Ein Jahr lang steigen Historikerinnen und Historiker quer durch die Schweiz in Geheimarchive, sprechen mit Priestern und Missbrauchsopfern. Darauf haben sich Kirchenvertreter und die Projektleiterinnen geeinigt. Auch Opferverbände sind ins Pilotprojekt involviert.
Es habe länger gedauert als in anderen Ländern, aber jetzt wolle auch die katholische Kirche in der Schweiz dieses dunkle Kapitel beleuchten, sagt Joseph Bonnemain, Bischof von Chur und innerhalb der Bischofskonferenz zuständig für das Thema sexuelle Übergriffe.
«In der Vergangenheit wurden die Opfer nicht ernst genommen, ja im Stich gelassen. Die Täter wurden geschützt und nicht bestraft. Es geht darum, diese erlittene Ungerechtigkeit wiedergutzumachen. Nur wenn wir all das schonungslos aufdecken und benennen, tragen wir zur Gerechtigkeit bei.»
Die Opfer wurden nicht ernst genommen, ja im Stich gelassen. Die Täter wurden geschützt und nicht bestraft.
Historisch sei dieser Schritt für die katholische Kirche in der Schweiz, so Bischof Bonnemain, weil sämtliche Vertreter und Organisationen der Kirche der Aufarbeitung zugestimmt hätten. Also neben der Bischofskonferenz auch die Kantonalkirchen sowie die Klöster und Ordensgemeinschaften.
Historikerinnen-Team soll Vorstudie erstellen
Geleitet wird die unabhängige Untersuchung von zwei Historikerinnen der Universität Zürich, Marietta Meier und Monika Dommann. Sie haben ein Team mit vier Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern angestellt, verteilt auf alle Landesteile. Im Tessin, in der Romandie, in Bern und in Zürich.
Ein Jahr lang steigen sie in Archive, sprechen mit den Menschen – und versuchen, offene Fragen zu klären, wie die Historikerin Marietta Meier sagt. Dazu gehöre etwa die Frage, warum Vorgesetzte nicht handelten oder warum Gerüchten innerhalb von Gemeinschaften trotz einschlägiger Hinweise nicht nachgegangen werde.
Wie das nun genau läuft mit der Kooperation, werden wir jetzt sehen. An den Taten soll man sie messen.
Diese Vorstudie soll klären, welche Dokumente und Akten überhaupt verfügbar sind und ob die Kirchenvertreter auch tatsächlich mitmachen, ergänzt Professorin Monika Dommann: «Wie das nun genau läuft mit der Kooperation, werden wir sehen. An den Taten soll man sie messen. Das werde wohl ganz entscheidend für die Nachfolgeprojekte und die spätere Zusammenarbeit sein.»
Opferverbände: Aufarbeitung kommt zu spät
Die Opferverbände begrüssen, dass es diese unabhängige Untersuchung gibt. Aus ihrer Sicht kommt die Aufarbeitung allerdings zu spät – und die Opfer müssten eine wichtige Rolle spielen als Zeitzeugen, fordert Vreni Peterer von der Interessengemeinschaft für Missbrauchsbetroffene im kirchlichen Umfeld: «Wir wissen auch, wie dieses Machtgefüge funktioniert hat. Mir beispielsweise hat der Pfarrer mit der Hölle gedroht. Bis vor zwei Jahren hatte ich eine panische Angst vor der Hölle. Auch das gehört in diese Studie.»
Wir wissen, wie dieses Machtgefüge funktioniert hat. Bis vor zwei Jahren hatte ich eine panische Angst vor der Hölle.
Im Mai beginnen die Historikerinnen mit ihrer Arbeit, im Herbst 2023 veröffentlichen sie ihre Studie. Dieser Bericht soll dann der Startpunkt sein für die eigentliche, grosse Untersuchung der sexuellen Übergriffe in der katholischen Kirche.