Ein Gericht in New York hat ein Urteil gegen Harvey Weinstein wegen Sexualverbrechen aufgehoben. Was bedeutet die Aufhebung des Urteils für Opfer sexualisierter Gewalt – jenseits von Hollywood? Entscheidend für die Wahrnehmung der Opfer seien die Medien, sagt Agota Lavoyer, Expertin für sexualisierte Gewalt.
SRF: Das Urteil gegen Harvey Weinstein wurde aufgehoben. Ist das ein symbolischer Schlag ins Gesicht von Frauen, die sexualisierte Gewalt erlebt haben?
Agota Lavoyer: Durchaus. Es zeigt, wie schwierig es für Betroffene ist, via Strafverfahren Gerechtigkeit zu erlangen. Selbst in einem Fall mit so grosser Tragweite, bei dem man dachte, dass er zu Ende sei.
Eine Befürchtung: Die Aufhebung des Urteils könnte die Me-Too-Bewegung, die im Zuge des Weinstein-Falls aufkam, schwächen?
Mich erinnert die Diskussion an den Fall Amber Heard und Johnny Depp. Obwohl Depp ein verurteilter Täter ist, wurde Heard in den Medien als Täterin gehandelt. Damals war auch die Rede davon, dass Heard der Me-Too-Bewegung schade. Diese Tendenz habe ich auch in den Kommentaren zur Berichterstattung über Weinstein gesehen. Viele sind bereit, in Weinstein keinen Täter zu sehen.
Deshalb ist die Medienberichterstattung wichtig. Weinstein bleibt ein Sexualstraftäter, der Dutzenden von Frauen Gewalt angetan hat. Ein Urteil ist aufgehoben, weil es einen Verfahrensfehler gab. Ein weiteres Urteil besteht fort.
Es kostet die Opfer oft viel Überwindung, über ihre Erfahrung zu sprechen. Kann durch die Aufhebung eines solchen Urteils eine zusätzliche Hemmschwelle entstehen?
Das Thema sexualisierte Gewalt ist empfindlich. Es gibt viele Ängste und Gefühle, die damit verbunden sind. Eine solche Aufhebung kann hemmen. Man sieht im Fall Weinstein sehr gut, dass Recht und Gerechtigkeit nicht dasselbe sind. Daher ist es wichtig, dass sich die Diskussion nicht darauf verschiebt, dass die Me-Too-Bewegung umsonst war.
Ich wünsche mir, dass man diskutiert, wie schwierig diese Strafverfahren für Betroffene sind und wie wenig Verurteilungen es gibt. Und wieviel Hass und Beschämung Betroffene, die sich öffentlich äussern oder anzeigen, erfahren.
Als die Me-Too-Bewegung aufkam, haben Sie in der Opferhilfe gemerkt, dass sich mehr Opfer getraut haben, über ihre Erfahrungen zu sprechen?
Indirekt ja. Die Me-Too-Bewegung hat ein Tabu-Thema in der breiten Öffentlichkeit sichtbar gemacht. In den Medien, in der Politik, auch im Privaten wurde darüber gesprochen. Es hat für Betroffene den Weg zu Unterstützungsangeboten erleichtert. Me-Too hat auch viel dazu beigetragen, dass in der Schweiz das Sexualstrafrecht reformiert wurde.
Hat Me-Too die Scham genommen, die der Opferrolle anhaftet?
Betroffene sexualisierter Gewalt werden immer noch beschuldigt und beschämt – die wenigsten erhalten bedingungslose Unterstützung. Man sah das zum Beispiel bei der Influencerin Morena Diaz, die beschimpft wurde, als sie öffentlich sagte, dass sie sexualisierte Gewalt erfahren hat.
Die Me-Too Bewegung ist eine weltweite Protestbewegung geworden und steht dafür, dass man als Betroffene nicht allein ist und sexualisierte Gewalt strukturelle Ursachen hat. Die Bewegung hat viele Betroffene ermächtigt, aber es braucht dringend politische Massnahmen. Mehr Ressourcen für Unterstützungsangebote wie auch für die Prävention, aber auch opferfreundlichere Verfahren.
Das Gespräch führte Danja Nüesch.