Im Oktober 2017 begann für viele Frauen eine neue Zeitrechnung. Die renommierte New York Times berichtete über sexuelle Gewalt gegenüber Frauen im Filmgeschäft. Als Täter wurde Harvey Weinstein beschuldigt, einer der einflussreichsten Film-Produzenten in den USA. Vergewaltigung, sexuelle Nötigung, sexuelle Belästigung – Weinstein schreckte vor nichts zurück. Seine Macht im Filmbusiness, seine Kraft, Schauspielerinnen eine Karriere zu ermöglichen oder diese zu vernichten, war enorm.
Doch in jenem Oktober 2017 wurde der Mut einiger Frauen grösser als ihre Angst. Der Begriff «#metoo», «ich auch», begann sich im Netz zu verbreiten. Immer mehr Frauen fanden den Mut, über sexuelle Belästigung, über Missbrauch und Gewalt zu sprechen. Die Bewegung veränderte den Blick auf männliche Gewalt, auf Machtspiele, auf Unterdrückung und Belästigung. Immer mehr Frauen, immer mehr Beispiele.
Hinter der Urteilsaufhebung stehen die Fehler der Justiz
Gesellschaftlich war Harvey Weinstein erledigt. Seine Firma warf ihn raus, seine Frau liess sich scheiden. Doch über Gerechtigkeit wird vor Gericht entschieden – der Prozess wurde lange erwartet, dauerte lange. Schliesslich wurde Weinstein in zwei Prozessen zu einer Gesamtstrafe von 39 Jahren verurteilt.
Doch eines dieser beiden Urteile wurde heute kassiert: Die Verurteilung wegen Vergewaltigung von 2020 wurde aufgehoben. Die Begründung: Weinstein habe sich nicht genug verteidigen können, seine Argumente seien nicht in Gänze gehört worden. Zudem hätten Frauen vor Gericht ausgesagt, welche gar nicht als Klägerinnen auftraten – auch das ein Verfahrensfehler.
Nun ist es in Demokratien wichtig, dass vor Gericht alles mit rechten Dingen zugeht. Eine Justiz, die harte Strafen verhängt, muss streng kontrolliert werden. Insofern ist die Aufhebung des Urteils nicht willkürlich. Und da der 72-jährige Weinstein wegen des zweiten Urteils noch lange in Haft bleiben muss, bleibt den Klägerinnen eine Freilassung ihres Peinigers erspart.
Jetzt droht den Klägerinnen die nächste Tortur
Möglicherweise wird der Prozess neu aufgelegt – und hier beginnt die zweite Tortur der Frauen, die da dabei aussagen würden: Sie müssen ihre schmerzvolle Leidensgeschichte erneut erzählen. Sie müssen erneut ihren ganzen Mut zusammennehmen und ihr Innerstes nach aussen kehren, sich erneut mit den Verletzungen und Demütigungen auseinandersetzen.
Das haben sie im Vertrauen auf eine funktionierende Justiz schon einmal getan. Dass diese Justiz nicht in der Lage war, einen rechtskonformen Prozess durchzuführen, ist ein weiterer harter Schlag ins Gesicht all jener Frauen, welche sich getraut haben, gegen Weinstein aufzustehen.
Und es könnte auch künftig Opfer davon abhalten, sich zu wehren gegen sexuelle Gewalt. Könnte alles umsonst sein? Opfern sexuellen Missbrauchs wurde das Vertrauen in eine gerechte Welt schon bei der Tat genommen. Im Fall jener, die im Fall Weinstein aussagten, jetzt zum zweiten Mal. Das ist das Drama am Versagen der New Yorker Richter.